Kapitel 1 – Das Vermächtnis aus der Wand
Der Geruch von altem Holz und Mottenkugeln hing schwer in der Luft, als Erik die schmale Treppe zum Dachboden hinaufstieg. Jede Stufe knarrte unter seinem Gewicht, ein protestierendes Stöhnen, das in dem leeren Haus widerhallte. Durch das verstaubte Dachfenster fiel fahles Nachmittagslicht, das die schwebenden Staubpartikel in glänzende Punkte verwandelte – kleine Sterne in einer toten Galaxie.
Seine Großmutter war vor drei Wochen gestorben. Friedlich, hatte der Arzt gesagt, im Schlaf. Erik hatte nicht geweint. Nicht bei der Beerdigung, nicht beim Testament, nicht einmal jetzt, während er durch die Hinterlassenschaften ihres Lebens wühlte. Vielleicht war es die Distanz – sie hatten sich nie besonders nahegestanden. Oder vielleicht war es die Art, wie sie gestorben war: mit einem seltsam starren Ausdruck im Gesicht, die Augen zur Zimmerecke gerichtet, als hätte sie dort etwas gesehen, das niemand sonst sehen konnte.
Der Dachboden erstreckte sich über die gesamte Länge des alten Hauses, ein verwirrendes Labyrinth aus Kisten, Koffern und mit Laken verhüllten Möbelstücken. Erik hatte keine Ahnung, wo er anfangen sollte. Die Anwältin hatte ihm gesagt, er solle nach Dokumenten suchen – Versicherungspapiere, alte Verträge, vielleicht ein paar Aktienzertifikate. Stattdessen fand er Berge von Erinnerungen: vergilbte Fotografien unbekannter Menschen, Schulzeugnisse seiner Mutter, einen Karton voller handgestrickter Babykleidung, die nach Lavendel und Zeit roch.
Er arbeitete methodisch, öffnete eine Kiste nach der anderen, sortierte den Inhalt, machte sich Notizen. Nach zwei Stunden waren seine Hände schwarz vom Staub, und er hatte drei Stapel gebildet: Wegwerfen, Spenden, Aufbewahren. Der letzte war der kleinste.
Dann stieß er auf den Schrank.
Er stand in der hintersten Ecke, halb versteckt hinter einem zusammengerollten Teppich und mehreren Kartons mit alten Zeitschriften. Erik hätte ihn beinahe übersehen. Es war ein schmales, unscheinbares Möbelstück aus dunklem Holz, vielleicht einhundertzwanzig Zentimeter hoch, mit einer einfachen Tür ohne Schlüssel. Die Oberfläche war mit einer dicken Staubschicht bedeckt, und als Erik sie berührte, fühlte sich das Holz seltsam warm an – wärmer, als es in diesem kalten Raum sein sollte.
Er zog die Tür auf. Sie ging schwergängig, die Scharniere protestierten mit einem hohen, klagenden Quietschen. Drinnen hingen ein paar alte Kleiderbügel, und auf dem Boden lag ein einzelner Schuh, dessen Partner längst verloren gegangen war. Erik wollte die Tür schon wieder schließen, als ihm etwas auffiel.
Die Rückwand des Schranks saß nicht richtig.
Er kniete sich hin und untersuchte sie genauer. Die Bretter waren an einer Stelle leicht vorstehend, als hätte sich das Holz verzogen. Erik drückte dagegen. Nichts passierte. Er drückte fester, und plötzlich gab etwas nach – ein leises Klicken, kaum hörbar, und eine schmale Platte löste sich aus der Wand.
Dahinter befand sich ein verborgenes Fach.
Eriks Herz begann schneller zu schlagen. Mit zitternden Fingern griff er hinein und zog ein in Leder gebundenes Päckchen hervor. Es war mit einem verblassten Satinband verschnürt, das beim ersten Berühren auseinanderfiel. Das Leder war brüchig und fleckig, aber er konnte noch die eingeprägten Initialen erkennen: E.H.
Elise Hartmann. Seine Urgroßmutter.
Vorsichtig schlug er das Leder zurück. Darin lagen mehrere Gegenstände: ein kleines, in Seidenpapier gewickeltes Paket, einige zusammengefaltete Briefe, und – sein Atem stockte – ein Foto.
Es war ein altes Schwarz-Weiß-Foto, die Ränder vergilbt und brüchig. Zwei junge Menschen standen darauf, steif und formell, wie es bei Aufnahmen aus dieser Zeit üblich war. Die Frau trug ein hochgeschlossenes dunkles Kleid, ihr Haar war zu einem strengen Dutt frisiert. Der Mann neben ihr war schlank und groß, mit einem dichten Schnurrbart und ernsten Augen. Beide blickten direkt in die Kamera, ohne zu lächeln.
Erik erkannte sie sofort. Er hatte ein ähnliches Foto unten im Wohnzimmer gesehen, in einem Silberrahmen auf dem Kaminsims. Seine Urgroßeltern, Elise und Friedrich Hartmann. Sie waren in den frühen Dreißigerjahren spurlos verschwunden. Die Familie hatte nach ihnen gesucht, aber nie eine Spur gefunden. Irgendwann hörte man auf zu suchen. Irgendwann wurden sie zu einer dieser Geschichten, die man nur noch in Andeutungen erzählte.
Aber dieses Foto war anders.
Hinter dem Paar, fast am Bildrand, stand ein massives Gebäude. Ein Schloss – düster und imposant, mit spitzen Türmen, die wie Finger in einen bleiernen Himmel ragten. Und dort, in einem der hohen Fenster im obersten Stockwerk, war etwas zu sehen. Eine Gestalt, kaum mehr als ein Schatten, aber deutlich erkennbar für jemanden, der genau hinsah.
Jemand hatte sie beobachtet, als das Foto gemacht wurde.
Erik drehte das Bild um. Auf der Rückseite, in verblasster Tinte, stand in krakeliger Schrift:
Schloss Falkenstein, September 1932
Und darunter, kaum noch lesbar:
Wir können nicht gehen. Er lässt uns nicht.
Die Worte schienen von der Seite zu brennen. Erik starrte sie an, las sie wieder und wieder, als könnte er ihre Bedeutung durch bloßes Anstarren ändern. Sein Mund wurde trocken.
Er griff nach den Briefen, faltete den obersten auseinander. Das Papier war spröde, riss leicht an den Falzen. Die Handschrift war dieselbe wie auf der Rückseite des Fotos – seine Urgroßmutter.
14. Oktober 1932
Liebste Mutter,
ich weiß nicht, ob dieser Brief Dich jemals erreichen wird. Ich habe schon drei geschrieben, aber Herr von Falkenstein duldet keine Post, die das Schloss verlässt, ohne dass er sie gelesen hat. Dieser hier wird von einem der Lieferanten mitgenommen, der versprochen hat, ihn in der Stadt aufzugeben.
Es ist schwer zu erklären, was hier vor sich geht. Friedrich und ich dachten, wir hätten einen guten Platz gefunden – das Schloss ist groß und prächtig, wenn auch etwas verfallen, und der Lohn ist besser als alles, was wir in der Stadt hätten finden können. Aber es gibt Regeln hier, Mutter. So viele Regeln.
Wir dürfen den Westflügel nie betreten. Wir müssen jeden Abend vor Sonnenuntergang unsere Zimmer aufsuchen und die Türen verriegeln. Wir dürfen nachts niemals durch die Korridore gehen, egal was wir hören. Und wir hören so vieles, Mutter. Schritte. Stimmen. Manchmal ein Kratzen an unserer Tür, so als würde jemand – oder etwas – versuchen, hineinzukommen.
Die anderen Diener sprechen nicht darüber. Sie wenden die Augen ab, wenn man Fragen stellt. Aber ich sehe die Angst in ihren Gesichtern. Ich sehe, wie sie zittern, wenn die Sonne untergeht.
Friedrich sagt, wir sollten gehen. Aber der Vertrag… Wir haben unterschrieben, Mutter. Fünf Jahre Dienst. Und die Strafe für vorzeitiges Verlassen…
Der Brief brach dort ab. Keine Unterschrift, keine weiteren Worte. Nur eine verschmierte Tintenlache am unteren Rand, als hätte jemand die Feder fallen lassen.
Erik griff nach dem nächsten Brief. Seine Hände zitterten jetzt deutlich.
2. November 1932
Mutter,
Ich schreibe in Eile. Friedrich schläft endlich, nach drei Nächten ohne Ruhe. Letzte Nacht ist etwas passiert. Etwas Schreckliches.
Einer der Diener – ein junger Mann namens Thomas, kaum älter als zwanzig – hat versucht zu fliehen. Er packte mitten in der Nacht seine Sachen und schlich sich zum Tor. Wir haben ihn schreien gehört. So ein Schrei, Mutter. Ich werde ihn nie vergessen, solange ich lebe.
Am nächsten Morgen fanden sie ihn. Nicht weit vom Tor entfernt, zusammengekauert wie ein Kind. Seine Haare waren weiß geworden. Komplett weiß, über Nacht. Er konnte nicht sprechen, nicht stehen. Seine Augen… Es war, als hätte er in etwas hineingesehen, das kein Mensch sehen sollte.
Sie haben ihn weggebracht. Ich weiß nicht wohin.
Wir hören Ihn jetzt jede Nacht. Den Herrn des Schlosses. Er geht durch die Korridore, seine Schritte hallen auf dem Stein. Manchmal bleibt er vor unserer Tür stehen. Manchmal höre ich Ihn atmen – ein langes, rasselndes Atmen, als käme es aus großer Tiefe.
Friedrich sagt, wir müssen durchhalten. Nur noch vier Jahre und acht Monate. Aber, Mutter… ich glaube nicht, dass wir so lange überleben werden. Ich glaube nicht, dass irgendjemand hier…
Wieder kein Ende. Wieder diese plötzliche Unterbrechung.
Es gab noch drei weitere Briefe. Erik las sie alle, während das Licht durch das Dachfenster allmählich schwächer wurde und die Schatten länger. Mit jedem Brief wurde der Ton verzweifelter, die Handschrift unleserlicher. Der letzte war auf den 7. Januar 1933 datiert.
Ich weiß nicht mehr, was real ist. Die Tage verschwimmen ineinander. Manchmal glaube ich, es sind Wochen vergangen, aber der Kalender sagt, es war nur ein Tag. Die anderen Diener sehen mich seltsam an. Friedrich spricht kaum noch. Nachts liegt er wach und starrt an die Decke, und ich höre, wie er zählt. Immer und immer wieder, leise, wie ein Gebet.
Wir haben Ihn gesehen. Oder zumindest… einen Schatten. Eine Gestalt, die nicht ganz da ist. Sie bewegt sich anders als ein Mensch. Zu schnell. Zu fließend. Und die Kälte, die von Ihr ausgeht…
Ich glaube, wir werden dieses Schloss nie verlassen. Ich glaube, wir gehören jetzt hierher. So wie alle anderen, die vor uns gekommen sind.
Wir hören Ihn in den Knochen. Er ist da, auch wenn ihr Ihn nicht seht.
Vergib uns.
Das war alles.
Erik saß lange Zeit reglos da, die Briefe in den Händen. Draußen war es fast dunkel geworden. Die Schatten im Dachboden hatten sich verdichtet, waren zu schwarzen Tümpeln in den Ecken geworden. Er spürte, wie sich etwas in seiner Brust zusammenzog – keine Angst, genau, sondern etwas anderes. Eine Mischung aus Neugier und… Verpflichtung?
Seine Urgroßeltern waren nicht einfach verschwunden. Sie waren gefangen worden. Irgendwo in einem Schloss namens Falkenstein, das vermutlich längst verfallen und vergessen war. Aber was, wenn nicht? Was, wenn es noch stand? Was, wenn…
Er schüttelte den Kopf. Das war verrückt. Die Briefe waren fast hundert Jahre alt. Jeder, der damals im Schloss gelebt hatte, war längst tot. Das alles war Geschichte, Vergangenheit, abgeschlossen.
Und doch…
Erik griff nach dem letzten Gegenstand aus dem Päckchen – das kleine, in Seidenpapier gewickelte Paket. Er faltete es vorsichtig auseinander und fand einen Schlüssel. Er war aus schwerem, geschwärztem Eisen, kunstvoll verziert mit Ranken und Ornamenten. Am Griff war eine kleine Plakette befestigt, auf der in winziger Schrift eingraviert war:
Westflügel
Erik starrte den Schlüssel an. Der Westflügel. Der Teil des Schlosses, den die Diener nie betreten durften. Der Teil, vor dem seine Urgroßmutter solche Angst gehabt hatte.
Warum hatte sie den Schlüssel behalten? Warum hatte sie ihn hier versteckt, zusammen mit den Briefen und dem Foto?
Ein kalter Luftzug strich über seinen Nacken. Erik fuhr herum, aber der Dachboden war leer. Das Dachfenster stand nur einen Spalt offen, zu wenig für einen solchen Windstoß. Und doch… hatte er nicht für einen Moment etwas gehört? Ein Flüstern, so leise, dass er sich nicht sicher sein konnte, ob es real war oder nur seine Einbildung?
Komm.
Nein. Das war unmöglich. Er war allein hier. Vollkommen allein.
Aber als er die Briefe wieder in das Lederpaket legte, den Schlüssel in seine Tasche steckte und zur Treppe ging, konnte er das Gefühl nicht abschütteln, dass etwas – oder jemand – ihn beobachtete. Aus den Schatten. Aus den verhüllten Spiegeln. Aus dem verborgenen Fach in der Schrankwand.
Unten im Haus machte er sich einen starken Kaffee und setzte sich an den Küchentisch. Die Briefe lagen vor ihm ausgebreitet, zusammen mit dem Foto. Er starrte auf das düstere Schloss im Hintergrund, auf die Schattengestalt im Fenster.
Schloss Falkenstein.
Sein Laptop stand noch aufgeklappt auf dem Tisch, wo er ihn am Vormittag hatte liegen lassen. Erik öffnete ihn, wartete, bis der Bildschirm aufflackerte, und tippte den Namen in die Suchmaschine.
Die ersten Ergebnisse waren Tourismussseiten über andere Schlösser, historische Archive, genealogische Datenbanken. Nichts Passendes. Er verfeinerte die Suche, fügte das Jahr hinzu, die Region, alle Details, die er aus den Briefen entnehmen konnte.
Und dann, auf der dritten Seite der Suchergebnisse, fand er etwas.
Ein kurzer Eintrag in einem regionalhistorischen Forum, gepostet vor acht Jahren von jemandem mit dem Benutzernamen „Archivar67“:
Suche Informationen über Schloss Falkenstein im Schwarzwald, erbaut vermutlich im 16. Jahrhundert. Letzte bekannte Besitzer: Familie von Falkenstein. Schloss wurde nach 1933 aus den öffentlichen Registern gelöscht. Gründe unbekannt. Alle Kartenmaterialien geschwärzt oder fehlend. Bei Recherchen im Staatsarchiv auf systematische Archivierungslücken gestoßen. Jemand wollte nicht, dass man dieses Schloss findet.
Es gab nur eine Antwort auf den Beitrag, gepostet zwei Tage später von einem Nutzer namens „Waldläufer_M“:
Kenne das Schloss. Liegt etwa 40 km nordöstlich von Freudenstadt, tief im Wald. Kein Weg führt mehr dorthin, seit Jahrzehnten. Einheimische sprechen nicht darüber. Als ich einmal nachgefragt habe, hat mir ein alter Mann nur gesagt: „Manche Orte sollte man in Ruhe lassen. Besonders nach Einbruch der Dunkelheit.“
Darunter hatte jemand GPS-Koordinaten gepostet. Erik kopierte sie in eine Kartenanwendung.
Das Schloss lag abseits jeder Straße, umgeben von dichtem Wald. Auf der Satellitenkarte war nur eine große, dunkle Fläche zu sehen – Bäume, die so dicht standen, dass sie alles darunter verbargen. Aber wenn man genau hinsah, wenn man den Kontrast erhöhte und hineinzoomte, konnte man die schwachen Umrisse von Strukturen erkennen. Türme. Mauern. Ein Gebäude, das nicht existieren sollte, aber existierte.
Erik lehnte sich zurück. Sein Herz hämmerte gegen seine Rippen. Das war verrückt. Absolut verrückt. Er hatte einen Job, Verpflichtungen, ein Leben. Er konnte nicht einfach alles stehen und liegen lassen, um einem hundert Jahre alten Geheimnis nachzujagen.
Aber der Schlüssel in seiner Tasche fühlte sich schwer an. So schwer.
Und die Worte seiner Urgroßmutter hallten in seinem Kopf nach:
Was, wenn sie noch dort waren? Nicht im wörtlichen Sinn – das war unmöglich –, aber ihre Geschichten, ihre Erinnerungen, die Wahrheit darüber, was mit ihnen geschehen war? Was, wenn er der Erste sein könnte, der diese Antworten fand?
Erik schloss den Laptop. Draußen war es jetzt vollkommen dunkel. Die Küche lag im Schatten, nur erleuchtet vom schwachen Licht der Straßenlaterne vor dem Haus. Im Fenster konnte er seine eigene Reflexion sehen – und für einen Moment, nur für den Bruchteil einer Sekunde, sah es aus, als stünde jemand hinter ihm.
Er wirbelte herum.
Niemand.
Natürlich niemand.
Aber als er die Treppe zu seinem provisorischen Schlafzimmer im ersten Stock hinaufging, konnte er das Gefühl nicht abschütteln, dass das Haus ihm zuhörte. Dass es wartete. Dass es wollte, dass er ging.
Und eine leise Stimme in seinem Kopf – seine eigene oder etwas anderes, er konnte es nicht sagen – flüsterte:
Komm nach Hause, Erik. Wir haben auf dich gewartet.
Er würde morgen aufbrechen.
Diese Nacht schlief er nicht.
Kapitel 2 – Die Straße, die nicht existiert
Erik verließ die Stadt um kurz nach sieben Uhr morgens. Der Himmel war bleischwer, verhangen mit dicken Wolken, die so tief hingen, dass sie die Hügelkuppen zu verschlucken schienen. Es hatte in der Nacht geregnet, und die Straßen glänzten noch feucht im fahlen Licht.
Er hatte nur eine kleine Reisetasche dabei – Kleidung für zwei, vielleicht drei Tage, eine Taschenlampe, sein Laptop, eine Thermoskanne mit Kaffee. Und den Schlüssel. Der lag jetzt auf dem Beifahrersitz, eingewickelt in das vergilbte Foto seiner Urgroßeltern, als könnte er ihm den Weg weisen.
Die ersten zwei Stunden der Fahrt waren unspektakulär. Autobahn, dann Bundesstraße, dann immer schmaler werdende Landstraßen, die sich durch sanfte Hügel und herbstliche Wälder wanden. Erik hatte diese Route schon mehrmals studiert, erst auf der Karte, dann auf Satellitenbildern, schließlich auf Street View – soweit die Aufnahmen reichten. Aber je näher er seinem Ziel kam, desto weniger half ihm die Technologie.
Die GPS-Koordinaten, die er im Forum gefunden hatte, führten ihn zu einem kleinen Dorf namens Schönwald. Der Name war eine Lüge – das Dorf bestand aus vielleicht zwanzig Häusern, die sich entlang einer einzigen Straße drängten, als hätten sie Angst, sich zu weit in die umliegenden Wälder vorzuwagen. Die meisten Gebäude waren alt, ihre Fassaden verwittert und fleckig. Holzläden hingen schief in den Angeln. Ein kleiner Kirchturm ragte über den Dächern auf, die Uhr im Glockenturm zeigte eine Zeit an, die um zwanzig Minuten falsch ging.
Erik parkte vor dem einzigen Geschäft, das geöffnet zu sein schien – eine kleine Bäckerei mit beschlagenen Fenstern. Als er aus dem Auto stieg, traf ihn die Kälte wie ein Schlag. Es war deutlich kälter hier als in der Stadt, und die Luft roch anders. Nach Moos und feuchtem Holz und etwas Tieferem, Älterem.
Die Türglocke der Bäckerei klingelte blechern, als er eintrat. Drinnen war es warm und duftete nach frischem Brot, aber die Frau hinter dem Tresen – klein, rundlich, Mitte sechzig – erstarrte, als sie ihn sah. Ihr Lächeln gefror mitten in der Bewegung.
„Guten Morgen“, sagte Erik.
Sie nickte nur, sagte nichts.
„Ich hätte gerne zwei Brötchen und…“ Er zögerte. Sollte er direkt fragen? Oder würde das nur Misstrauen wecken? „Und vielleicht können Sie mir helfen. Ich suche einen Weg zu einem alten Schloss in der Nähe. Schloss Falkenstein.“
Die Reaktion war unmittelbar. Die Frau wich einen Schritt zurück, als hätte er sie geschlagen. Ihre Hand fuhr zu einer silbernen Kette um ihren Hals – ein Kreuz, erkannte Erik, halb unter ihrer Bluse versteckt.
„Wir haben kein Schloss hier“, sagte sie scharf. Ihre Stimme war dünn geworden, brüchig.
„Aber ich habe es auf der Karte—“
„Es gibt kein Schloss.“ Sie sprach jetzt lauter, mit einer Intensität, die Erik zurückweichen ließ. „Es gibt keinen Weg dorthin. Und selbst wenn, würde ich Ihnen nicht sagen, wo er ist.“
„Ich verstehe nicht—“
„Sie sollten zurück nach Hause fahren.“ Ihre Augen waren jetzt feucht, flackernd zwischen Angst und etwas, das fast wie Mitleid aussah. „Jetzt gleich. Solange es noch hell ist.“
Erik öffnete den Mund, um zu antworten, aber in diesem Moment ging die Tür hinter ihm auf. Ein alter Mann trat ein, gebeugt und auf einen Stock gestützt. Sein Gesicht war so faltig, dass es aussah wie eine zerknüllte Karte. Aber seine Augen waren scharf, wachsam, und sie fixierten Erik sofort.
„Sie fragen nach dem Schloss“, sagte der Alte. Es war keine Frage.
„Herr Bachmann, bitte—“ Die Bäckerin klang panisch.
Der Alte ignorierte sie. Er kam näher, seine Schritte langsam aber bestimmt. Erik konnte einen Geruch wahrnehmen – Tabak und altes Leder und etwas Medizinisches.
„Warum wollen Sie dorthin?“, fragte der Mann.
Erik zögerte. Aber irgendetwas in den Augen des Alten – eine Müdigkeit, vielleicht, oder eine Art von Wissen – ließ ihn die Wahrheit sagen.
„Meine Urgroßeltern haben dort gearbeitet. In den Dreißigerjahren. Sie sind verschwunden, und ich…“ Er verstummte. Wie sollte er erklären, was er selbst kaum verstand? „Ich möchte wissen, was mit ihnen passiert ist.“
Der Alte betrachtete ihn lange. Dann nickte er langsam.
„Hartmann“, sagte er. „Elise und Friedrich Hartmann.“
Eriks Herz setzte einen Schlag aus. „Sie kennen—“
„Mein Vater hat sie gekannt. Er war Lieferant. Brachte Lebensmittel zum Schloss, bevor…“ Der Mann verstummte, sein Blick wurde distant. „Er sprach nie darüber. Aber manchmal, nachts, hörte ich ihn im Schlaf reden. Dieselben Worte, immer wieder. ‚Sie bleiben dort. Sie bleiben alle dort.'“
Die Bäckerin hatte sich in eine Ecke zurückgezogen, die Hände fest um ihre Kette geklammert. Sie murmelte etwas – ein Gebet vielleicht.
„Es gibt einen Weg“, sagte der Alte. „Oder es gab einen. Ich weiß nicht, ob er noch passierbar ist. Folgen Sie der Straße nach Norden, etwa drei Kilometer. Dort sehen Sie einen alten Holzschuppen auf der rechten Seite – oder das, was davon übrig ist. Dahinter beginnt ein Waldweg. Nicht markiert. Kaum noch zu sehen. Aber wenn Sie darauf achten, finden Sie ihn.“
„Und wie weit—“
„Zwei, drei Kilometer. Vielleicht mehr. Der Wald ist dicht dort. Die Bäume…“ Er schüttelte den Kopf. „Sie wachsen anders dort. Als wollten sie etwas verbergen. Oder schützen.“
Erik spürte, wie sich die Härchen in seinem Nacken aufstellten. „Warum sagen Sie mir das? Die anderen—“
„Weil Sie sowieso gehen werden.“ Der Alte sah ihn durchdringend an. „Ich sehe es in Ihren Augen. Sie haben denselben Blick wie die anderen, die danach gefragt haben. Es sind nicht viele. Einer alle paar Jahre vielleicht. Historiker. Abenteurer. Verrückte.“ Er lehnte sich näher, seine Stimme wurde zu einem Flüstern. „Sie kommen alle zurück. Die meisten jedenfalls. Aber sie sind… verändert.“
„Verändert wie?“
Der Alte antwortete nicht. Stattdessen griff er in seine Jackentasche und zog etwas heraus – eine kleine, verwitterte Holzfigur, kaum größer als ein Daumen. Sie stellte einen Menschen dar, grob geschnitzt, mit einem Kreuz um den Hals.
„Nehmen Sie das“, sagte er und drückte sie Erik in die Hand. „Mein Vater hat sie immer bei sich getragen, wenn er zum Schloss musste. Er sagte, es würde helfen. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Aber…“
Erik schloss die Finger um die Figur. Sie war warm, obwohl sie aus der Jackentasche des Alten gekommen war. „Danke.“
Der Mann nickte. Dann, leiser: „Wenn Sie dort sind, nach Sonnenuntergang… bleiben Sie im Licht. Immer im Licht. Und wenn Sie Stimmen hören, Stimmen die Sie kennen – folgen Sie ihnen nicht. Egal was sie sagen.“
Bevor Erik antworten konnte, hatte sich der Alte schon zur Tür gewandt. Er ging hinaus ohne ein weiteres Wort, ohne die Brötchen zu kaufen, die er vermutlich hatte holen wollen.
Die Bäckerin starrte Erik an, ihre Augen groß und feucht.
„Bitte“, flüsterte sie. „Fahren Sie weg.“
Aber Erik hatte schon Geld auf den Tresen gelegt und war zur Tür gegangen.
Der Holzschuppen war noch da, aber gerade so. Die Wände waren eingefallen, das Dach halb zerfallen. Erik parkte sein Auto am Straßenrand und stieg aus. Hier war die Stille noch ausgeprägter als im Dorf. Kein Vogelgesang. Kein Wind. Nur das leise Tropfen von Wasser, das von nassen Blättern fiel.
Er fand den Waldweg genau dort, wo der Alte es gesagt hatte. Es war kaum mehr als eine schmale Spur zwischen den Bäumen, überwuchert mit Farnen und Moos. Zweige und herabgefallene Äste versperrten den Weg. Aber wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, dass hier einmal Menschen gegangen waren. Vielleicht vor langer Zeit.
Erik zögerte. Es war jetzt kurz nach zehn Uhr morgens, aber unter dem dichten Blätterdach war es bereits dämmerig. Die Bäume standen so nah beieinander, dass ihre Kronen sich übereinander wölbten und ein natürliches Gewölbe bildeten. Nur vereinzelte Lichtstrahlen drangen durch, zittrig und unstet.
Er dachte an die Worte des Alten. Nach Sonnenuntergang… bleiben Sie im Licht.
Dann dachte er an seine Urgroßeltern, an die Verzweiflung in Elises Briefen, an den Schrecken, den sie beschrieben hatte.
Er ging.
Der Weg war schwieriger als erwartet. Wurzeln schlängelten sich über den Pfad, dick und knotig wie Schlangen. Zweige griffen nach seiner Kleidung. Der Boden war matschig, rutschig, und mehr als einmal verlor Erik fast das Gleichgewicht. Die Tasche über seiner Schulter wurde mit jedem Schritt schwerer.
Nach etwa zwanzig Minuten hielt er an, um Luft zu holen. Als er sich umsah, stellte er fest, dass er keine Ahnung hatte, wo er war. Die Bäume sahen alle gleich aus – dick, alt, ihre Rinde dunkel und rissig wie alte Haut. Er konnte die Straße nicht mehr sehen, nicht mehr hören. Es gab nur den Wald, endlos und verschlingend.
Ein leises Unbehagen begann in seiner Brust zu wachsen. Er hatte sein Handy mitgenommen, aber als er es jetzt herausholte, sah er, dass es keinen Empfang gab. Natürlich nicht. Zu tief im Wald, zu weit von jeder Zivilisation entfernt.
Er ging weiter.
Die Zeit verlor ihre Bedeutung. Es hätte eine weitere Stunde sein können oder drei – Erik konnte es nicht sagen. Das Licht veränderte sich kaum, blieb in diesem ewigen Dämmerzustand gefangen. Seine Beine begannen zu schmerzen, seine Füße waren nass von Pfützen, die er nicht rechtzeitig gesehen hatte.
Und dann, ganz plötzlich, öffnete sich der Wald.
Erik blieb stehen. Vor ihm lag eine Lichtung, vielleicht hundert Meter im Durchmesser. Das Gras war hoch und ungepflegt, durchzogen mit Unkraut und wilden Blumen, die schon halb verwelkt waren. Am gegenüberliegenden Ende der Lichtung, halb verborgen hinter verkrüppelten Bäumen, erhob sich eine Mauer.
Eine hohe, massive Steinmauer, schwarz vor Alter und Feuchtigkeit. Und dahinter, sich über die Baumwipfel erhebend, standen die Türme.
Eriks Atem stockte. Es war real. Nach all den Briefen, den Recherchen, den Zweifeln – es war real.
Das Schloss war größer als auf dem Foto, imposanter und zugleich verfallener. Die Türme ragten spitz und unregelmäßig in den Himmel, als hätten sie versucht, dem Boden zu entkommen und wären auf halbem Weg erstarrt. Die Mauern waren von Rissen durchzogen, Efeu kletterte die Fassade hinauf wie greifende Finger. Viele der Fenster waren zerbrochen, die Öffnungen gähnten schwarz und leer.
Aber nicht alle.
Erik verengte die Augen. In einem der oberen Fenster – dem gleichen, in dem auf dem alten Foto ein Schatten zu sehen gewesen war – glaubte er eine Bewegung zu erkennen. Etwas Dunkles, das sich zurückzog, als er hinsah.
Sein Herzschlag beschleunigte sich. Das Schloss war nicht verlassen. Nicht komplett. Irgendwer – oder irgendwas – war dort.
Er überquerte die Lichtung mit zögerlichen Schritten. Das hohe Gras raschelte um seine Beine. Mit jedem Meter, den er näher kam, wuchs das Unbehagen in seiner Brust. Nicht Angst, nicht genau. Eher eine Art von Vorahnung. Das Gefühl, dass er eine Grenze überschritt, die nicht überschritten werden sollte.
Die Mauer war noch höher, als sie aus der Entfernung ausgesehen hatte – mindestens vier Meter, vielleicht fünf. Das Tor war aus dickem, verrostetem Eisen, verziert mit Ornamenten, die von der Zeit fast unkenntlich gemacht worden waren. Ein schweres Vorhängeschloss hing in der Mitte, alt und korrodiert.
Erik streckte die Hand aus und berührte es.
In dem Moment, in dem seine Finger das Metall berührten, gab das Schloss nach. Nicht durch seine Kraft – es fiel einfach ab, zerfiel zu Rost und Staub, als hätte es nur darauf gewartet, berührt zu werden.
Das Tor schwang auf. Langsam, knarrend, die Scharniere kreischend vor Protest. Ein Windhauch kam aus dem Inneren des Schlosshofs, kalt und abgestanden, wie Luft, die jahrzehntelang eingesperrt gewesen war.
Erik trat ein.
Der Hof war gepflastert mit großen, unregelmäßigen Steinen, viele von ihnen gebrochen oder verschoben. Unkraut wuchs aus den Ritzen. An den Seiten standen die Überreste von Nebengebäuden – Ställe vielleicht, oder Lagerräume – ihre Dächer eingestürzt, ihre Wände aufgebrochen wie von einer gewaltigen Faust zerschmettert.
Vor ihm erhob sich das Hauptgebäude. Eine breite Treppe führte zu einem massiven Eingangsportal hinauf. Die Tür stand offen. Nur einen Spalt, aber deutlich genug, dass Erik erkennen konnte: Jemand war vor ihm hier gewesen. Vor kurzer Zeit.
Er stieg die Treppe hinauf. Die Stufen waren rutschig, bedeckt mit einer Schicht aus Moos und etwas anderem – etwas Dunklerem, das er lieber nicht genauer betrachten wollte. Seine Hand umfasste den Schlüssel in seiner Tasche, holte Sicherheit aus seiner soliden Schwere.
Oben angekommen, schob er die Tür weiter auf.
Die Eingangshalle war riesig. Hohe Decken, von denen kunstvoll geschnitzte Balken herabhingen, viele davon zerbrochen oder schief. Eine breite Treppe führte zu einer Galerie im oberen Stockwerk. An den Wänden hingen die Überreste von Wandteppichen, zerfetzt und von Schimmel befallen. Und über allem lag eine Staubschicht, so dick, dass Eriks Schuhe Abdrücke hinterließen.
Aber es waren nicht nur seine Abdrücke.
Er kniete sich hin, untersuchte die Spuren genauer. Sie waren frisch, höchstens ein paar Tage alt. Nackte Füße. Barfuß, aber die Abdrücke waren seltsam – zu lang, zu schmal, die Zehen gespreizt wie von jemandem, der seit langem nicht mehr Schuhe getragen hatte.
Erik richtete sich auf. Sein Mund war trocken geworden. Er versuchte zu rufen – „Hallo?“ – aber seine Stimme klang gedämpft in dem riesigen Raum, verschluckt von der Stille, als wollte das Schloss nicht, dass er gehört wurde.
Keine Antwort.
Er ging weiter, folgte der Galerie nach links. Türen säumten den Korridor, die meisten geschlossen, einige halb offen. In einem Raum sah er die Überreste von Möbeln – ein umgestürzter Stuhl, die Scherben eines Spiegels, ein Bett mit zerfledderten Laken. In einem anderen entdeckte er Stapel von alten Büchern, ihre Seiten aufgequollen von Feuchtigkeit.
Und dann, am Ende des Korridors, fand er sie.
Die Dienstquartiere.
Er erkannte sie sofort an der Beschreibung in Elises Briefen. Kleine Zimmer, kaum größer als Zellen, mit schmalen Betten und einfachen Kommoden. Die Tür zu einem der Zimmer stand offen. Erik trat ein.
Das Zimmer war überraschend gut erhalten. Das Bett war gemacht, die Decke ordentlich gefaltet. Auf der Kommode standen einige persönliche Gegenstände – eine Bürste, ein kleiner Spiegel, eine Schale mit etwas, das einmal Seife gewesen sein musste.
Und auf dem Bett, sorgfältig ausgebreitet, lag ein Dienstkleid. Dunkel, hochgeschlossen, mit einer weißen Schürze. Genau wie auf dem Foto.
Eriks Hände zitterten, als er die Kommode öffnete. Drinnen lagen Briefe. Dutzende von ihnen, ordentlich gestapelt. Alle in der gleichen Handschrift. Elises Handschrift.
Aber das war unmöglich. Die Briefe, die er gefunden hatte, waren die letzten gewesen. Sie hatte aufgehört zu schreiben. Sie war verschwunden.
Er griff nach dem obersten Brief, faltete ihn auseinander. Das Papier war nicht alt, nicht vergilbt. Es war beinahe frisch.
16. November 2023
Eriks Blut gefror in seinen Adern.
An wen es betrifft,
Wenn Du dies liest, bist Du hier. Du hast uns gefunden. Oder vielleicht haben wir Dich gefunden. Die Zeit funktioniert hier anders. Wir wissen nicht mehr, wie lange wir schon hier sind. Jahrzehnte? Jahrhunderte? Es fühlt sich an wie beides und wie keines.
Er lässt uns nicht gehen. Er hat es nie getan. Aber wir leben, in einer Weise. Wir dienen, wir warten, wir existieren in den Zwischenräumen zwischen Nacht und Tag.
Wenn Du Erik bist – und wir glauben, dass Du es bist, denn das Schloss ruft nur die, die hierhergehören – dann solltest Du wissen: Du bist einer von uns. Blut bindet. Und das Blut der Diener dieses Hauses fließt durch Deine Adern.
Geh, solange Du noch kannst. Bevor die Sonne untergeht. Bevor Er Dich sieht.
Aber wenn Du bleibst…
Dann willkommen zu Hause.
Der Brief war nicht unterschrieben. Aber am unteren Rand war ein Fingerabdruck, halb verwischt. In etwas Dunklem. Etwas, das Erik lieber nicht identifizieren wollte.
Er ließ den Brief fallen, wich zurück, stolperte über seine eigenen Füße. Sein Herz hämmerte so laut, dass es in seinen Ohren dröhnte. Das war nicht möglich. Das konnte nicht sein. Menschen konnten nicht hundert Jahre leben. Menschen konnten nicht—
Ein Geräusch ließ ihn erstarren.
Schritte. Langsame, schleppende Schritte. Von irgendwo tiefer im Schloss. Sie kamen näher.
Erik drehte sich zum Ausgang. Aber zwischen ihm und der Tür stand jetzt jemand.
Eine Gestalt. Im Schatten. Er konnte keine Details erkennen – das Licht war zu schwach, zu zittrig. Aber er konnte die Umrisse sehen. Schlank. Weiblich. Eine Dienstschürze.
„Erik“, sagte die Gestalt. Die Stimme war leise, brüchig, wie Wind über altes Papier. „Du bist gekommen.“
Er wollte sprechen, aber keine Worte kamen heraus.
Die Gestalt trat einen Schritt nach vorne, ins Licht.
Es war eine Frau. Alt, das Gesicht faltig und eingefallen. Aber die Augen – die Augen waren jung. Wach. Und in ihnen lag eine Mischung aus Erleichterung und unendlicher Trauer.
„Ich habe so lange gewartet“, flüsterte sie. „Wir alle haben gewartet.“
Und Erik erkannte die Form ihres Gesichts, die Linie ihres Kiefers. Er erkannte sie von dem Foto, unter hundert Jahren und Qualen verborgen.
Elise.
Seine Urgroßmutter.
Sie lächelte. „Willkommen im Schloss Falkenstein.“
Dann drehte sie sich um und ging den dunklen Korridor hinunter, ihre Schritte unhörbar auf dem Stein.
Und nach einem langen, zögernden Moment folgte Erik ihr in die Dunkelheit.
Kapitel 3 – Die Regeln des Hauses
Der Korridor war lang und schmal, die Wände so nah, dass Erik sie mit ausgestreckten Armen hätte berühren können. Elise ging voraus, ihre Gestalt kaum mehr als ein Schatten in der Dunkelheit. Sie bewegte sich mit einer seltsamen Flüssigkeit, als würde sie nicht gehen, sondern gleiten. Ihre Füße machten kein Geräusch auf dem Stein.
Erik folgte ihr, sein Herz pochte gegen seine Rippen. Tausend Fragen wirbelten durch seinen Kopf, aber seine Kehle war wie zugeschnürt. Das Licht wurde schwächer, je tiefer sie ins Schloss vordrangen. Die wenigen Fenster, an denen sie vorbeikamen, waren klein und verschmutzt, ließen nur schmale, graue Lichtstrahlen durch.
Sie passierten mehrere Türen, alle geschlossen. Aus einigen hörte Erik Geräusche – ein leises Scharren, wie von Fingernägeln auf Holz. Ein Flüstern, zu leise, um Worte zu verstehen. Einmal glaubte er, Schritte über ihnen zu hören, schwer und langsam, die durch die Decke drangen.
Elise reagierte nicht darauf. Sie ging einfach weiter, unaufhaltsam.
Schließlich erreichten sie eine Treppe, die nach unten führte. Steinerne Stufen, ausgetreten und glatt, spiralförmig in die Tiefe windend. Elise begann hinabzusteigen, ohne zu zögern.
„Warte“, brachte Erik endlich heraus. Seine Stimme klang rau, fremd. „Ich verstehe nicht – wie kannst du—“
Sie drehte sich um. Im schwachen Licht von oben konnte er ihr Gesicht deutlicher sehen. Die Falten, die tiefen Schatten unter ihren Augen, die papierene Haut, die sich über die Knochen spannte. Aber auch die Augen, diese unnatürlich jungen Augen, die ihn mit einer Intensität anblickten, die ihm einen Schauer über den Rücken jagte.
„Wie ich noch lebe?“, fragte sie leise. Ein schmales Lächeln umspielte ihre Lippen, aber es erreichte ihre Augen nicht. „Das ist eine komplizierte Frage. Und die Antwort… die Antwort gefällt niemandem.“
„Aber du bist über hundert Jahre alt. Das ist—“
„Unmöglich. Ja.“ Sie nickte. „Aber wir sind hier, Erik. Im Schloss Falkenstein. Hier gelten andere Regeln.“ Sie wandte sich wieder der Treppe zu. „Komm. Die anderen warten.“
„Die anderen?“
„Friedrich. Die Dienerschaft. Alle, die hierbleiben mussten.“ Sie begann wieder hinabzusteigen. „Beeil dich. Es ist besser, wenn wir unten sind, bevor die Schatten länger werden.“
Erik zögerte. Jeder Instinkt in ihm schrie, dass er umkehren sollte. Zurück zur Eingangshalle, zum Tor, durch den Wald, zurück zur Zivilisation. Aber seine Füße trugen ihn nach vorne. Die Neugier, die ihn hierhergebracht hatte, war stärker als die Angst. Noch.
Die Treppe war steil und endlos. Erik zählte die Stufen – zwanzig, vierzig, sechzig – bevor er aufgab. Die Luft wurde kälter, feuchter. Er konnte seinen eigenen Atem sehen, kleine Wölkchen, die vor seinem Gesicht tanzten und dann verschwanden.
Irgendwo weit oben, so weit entfernt, dass es auch eine Einbildung sein konnte, hörte er ein Geräusch. Ein langes, ziehendes Kratzen. Als würde etwas Schweres über den Boden geschleift.
Er beschleunigte seine Schritte.
Endlich erreichten sie den Fuß der Treppe. Ein weiterer Korridor öffnete sich, breiter als der obere, aber niedriger. Die Decke war gewölbt, aus grob behauenem Stein. Fackeln brannten an den Wänden – echte Fackeln mit flackernden Flammen, die tanzende Schatten warfen.
„Wer hat die angezündet?“, fragte Erik.
Elise antwortete nicht.
Am Ende des Korridors befand sich eine schwere Holztür, beschlagen mit Eisen. Sie stand einen Spalt offen, und warmes Licht fiel heraus. Erik konnte Stimmen hören – leise, gemurmel, aber eindeutig menschlich.
Elise schob die Tür auf.
Der Raum dahinter war eine Art Küche oder Gemeinschaftsraum. Ein großer Steinherd dominierte eine Wand, über einem schwelenden Feuer hing ein Kessel. Ein langer Holztisch stand in der Mitte, umgeben von Bänken. Und an diesem Tisch saßen Menschen.
Vier, fünf – Erik brauchte einen Moment, um sie zu zählen. Alle trugen Dienstkleidung, einfach und dunkel. Alle hatten das gleiche zeitlose, zeitgealterte Aussehen wie Elise. Gesichter, die gleichzeitig jung und uralt wirkten. Augen, die zu viel gesehen hatten.
Als Erik eintrat, verstummten die Gespräche. Alle Köpfe drehten sich zu ihm.
Ein Mann stand auf – groß, hager, mit dichtem, grau meliertem Haar. Er trug eine einfache Weste über einem verblassten Hemd. Sein Gesicht war schmal, die Wangenknochen stark ausgeprägt. Aber Erik erkannte ihn. Von dem Foto. Von den Briefen.
Friedrich. Sein Urgroßvater.
„Erik“, sagte der Mann. Seine Stimme war tief, rau, wie eine Tür, die lange nicht geöffnet worden war. „Du bist also wirklich gekommen.“
Erik konnte nicht sprechen. Er starrte nur, sein Verstand rebellierte gegen das, was seine Augen sahen. Das war nicht möglich. Das konnte nicht real sein.
Friedrich trat näher. Er bewegte sich steif, als täten seine Gelenke weh, aber seine Augen waren wachsam, forschend. „Du siehst aus wie deine Großmutter“, sagte er. „Sophia. Unsere Enkelin. Wir haben… wir haben Fotos gesehen. Manchmal. Wenn Besucher kamen.“
„Besucher?“ Eriks Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
„Nicht viele. Einer alle paar Jahre. Historiker. Neugierige. Sie bleiben nie lange.“ Friedrich lächelte, aber es war ein trauriges Lächeln. „Die meisten fliehen, sobald die Sonne untergeht. Die Klügeren gehen schon vorher.“
„Setz dich.“ Friedrich deutete auf die Bank. „Du musst hungrig sein. Durstig. Die Reise durch den Wald ist anstrengend.“
Tatsächlich war Erik beides. Er hatte seit dem Morgen nichts gegessen, nur den Kaffee getrunken, der längst kalt und leer war. Aber die Vorstellung, hier zu essen, in diesem Raum, mit diesen… Menschen? Geistern? – erfüllte ihn mit Unbehagen.
Als hätte sie seine Gedanken gelesen, lachte Elise leise. „Wir sind nicht tot, Erik. Nicht im üblichen Sinne. Wir essen, wir trinken, wir atmen. Wir sind nur… gebunden.“
„Gebunden woran?“
„An Ihn.“ Die Stimme kam von einer jüngeren Frau am Tisch. Sie sah aus wie Mitte zwanzig, aber ihre Augen verrieten ein viel höheres Alter. „An den Herrn des Schlosses.“
Erik setzte sich langsam. Die Bank knarrte unter seinem Gewicht. Friedrich nahm ihm gegenüber Platz, Elise setzte sich neben ihn. Die anderen Diener beobachteten ihn schweigend.
„Erklärt es mir“, sagte Erik. „Von Anfang an.“
Friedrich und Elise wechselten einen Blick. Etwas Unausgesprochenes ging zwischen ihnen hin und her. Dann nickte Friedrich.
„Du hast die Briefe gelesen“, begann er. „Du weißt, dass wir hier als Diener angestellt wurden. 1932. Die Zeiten waren hart, Arbeit war rar. Das Angebot schien… großzügig. Ein isoliertes Schloss, seltsame Regeln, aber die Bezahlung war gut. Zu gut, hätten wir wissen müssen.“
„Der Herr des Schlosses“, unterbrach Elise. „Wir sahen ihn nie. Nicht in den ersten Monaten. Er blieb im Westflügel, hinter verschlossenen Türen. Wir hörten nur… Geräusche. Schritte. Manchmal Stimmen. Die älteren Diener warnten uns. Sagten uns, wir sollten die Regeln befolgen. Niemals nachts durch die Korridore gehen. Niemals in den Westflügel. Niemals seinen Namen aussprechen.“
„Welchen Namen?“
„Das darfst du nie fragen“, sagte die junge Frau scharf. „Namen haben Macht hier.“
Friedrich fuhr fort. „Wir hielten uns an die Regeln. Für eine Weile. Aber dann… Diener begannen zu verschwinden. Nicht viele, nur einer hier, einer dort. Und wenn sie zurückkamen – falls sie zurückkamen – waren sie verändert. Still. Gehorsam. Ihre Augen waren leer.“
„Einer von ihnen war Thomas“, sagte Elise leise. „Der Junge, der versucht hatte zu fliehen. Sie fanden ihn am nächsten Morgen. Aber er war nicht tot. Er war nur… anders. Er sprach nie wieder. Bewegte sich wie eine Marionette. Und nachts, wenn die anderen schliefen, hörten wir ihn durch die Korridore wandern. Immer dieselbe Route. Immer dieselben Schritte.“
Eriks Mund war trocken geworden. „Was ist mit ihm passiert?“
„Er wurde zu einem der Seinen“, sagte Friedrich. „Die, die zu lange im Westflügel bleiben, die zu nah kommen, die Ihn direkt ansehen – sie gehören nicht mehr sich selbst.“
„Und ihr?“
Eine lange Stille. Das Feuer knackte im Herd. Irgendwo über ihnen knarrte Holz.
„Wir haben einen Fehler gemacht“, sagte Elise schließlich. „Wir wollten fliehen. Planten es wochenlang. Warteten auf den richtigen Moment. Eine Vollmondnacht, dachten wir, da wäre Er abgelenkt. Wir packten unsere Sachen, schlichen uns zum Tor.“
„Aber Er wusste es.“ Friedrichs Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Er hat immer gewusst, was im Schloss geschieht. Wir kamen bis zum Wald. Glaubten schon, wir hätten es geschafft. Dann…“
Er verstummte, und Erik sah, wie seine Hände zu Fäusten wurden.
„Er holte uns zurück“, beendete Elise den Satz. „Nicht körperlich. Wir sahen Ihn nicht. Aber wir spürten Ihn. Eine Kälte, die durch unsere Knochen kroch. Unsere Beine gehorchten uns nicht mehr. Wir wurden zurückgezogen, als wären wir an Schnüren. Schritt für Schritt, durch den Wald, durch das Tor, zurück ins Schloss.“
„Und danach“, sagte Friedrich, „waren wir gebunden. Wirklich gebunden. Wir können das Schlossgelände nicht mehr verlassen. Nicht um einen Zentimeter. Die Tore mögen offen stehen, aber für uns sind sie verschlossen. Wenn wir versuchen zu gehen, spüren wir… Schmerz. Als würde unser Körper sich von innen auflösen.“
„Aber wie überlebt ihr?“, fragte Erik plötzlich. „Wenn ihr das Gelände nicht verlassen könnt – woher bekommt ihr Essen? Vorräte?“
Die Diener wechselten Blicke. Ernst war es, der antwortete.
„Lieferanten“, sagte er. „Es gibt einen Vertrag. Sehr alt, geht zurück bis ins 16. Jahrhundert. Bestimmte Familien in der Region sind verpflichtet, das Schloss zu versorgen. Einmal im Monat kommt ein Lieferwagen. Lässt Kisten am Tor – Mehl, Konserven, Öl, manchmal frisches Fleisch. Sie kommen nie herein. Legen die Waren hin und fahren sofort wieder.“
„Sie haben Angst“, fügte die junge Frau hinzu. „Aber die Bezahlung ist zu gut, um abzulehnen. Das Geld erscheint immer in ihren Briefkästen, pünktlich, in bar. Niemand weiß, woher es kommt. Niemand fragt.“
„Er arrangiert es“, sagte Elise leise. „Irgendwie. Er hat Verbindungen, Mittel, die wir nicht verstehen. Geld, das sich über Jahrhunderte angesammelt hat. Er sorgt dafür, dass wir versorgt werden. Weil Er uns braucht. Wir pflegen das Schloss, halten es bewohnbar. Und im Gegenzug…“ Sie verstummte.
„Im Gegenzug füttert Er sich von uns“, vollendete Friedrich bitter.
„Aber das ist doch längst verjährt“, sagte Erik. „So ein alter Vertrag kann nicht mehr gültig sein.“
„Die Familien glauben, er sei es“, erwiderte Ernst. „Und solange das Geld kommt, solange niemand Fragen stellt… Der Alte im Dorf, Herr Bachmann – sein Vater war einer der Lieferanten. Seine Familie hat das seit Generationen gemacht. Er weiß mehr als die meisten. Deshalb warnte er dich.“
„Und die letzten Jahrzehnte?“, fragte Erik. „Die Welt hat sich verändert. Es gibt Computer, Datenbanken, Behörden…“
„Das Schloss existiert nicht“, sagte die junge Frau einfach. „Nicht offiziell. Es wurde aus allen Registern gelöscht, vor langer Zeit. Die Karten zeigen nur Wald. Niemand zahlt Steuern darauf. Niemand besitzt es. Es ist ein Geist.“
„Aber das ist unmöglich—“
„Unmöglich?“ Ernst lachte bitter. „Du sitzt hier mit Menschen, die über hundert Jahre alt sind und sprechen mit dir. Du wurdest von einem Vampir gejagt. Und du sprichst von Unmöglichkeiten?“
Erik schwieg. Er hatte Recht natürlich.
„Aber das bedeutet“, sagte Erik langsam, „wenn die Lieferungen aufhören würden…“
„Würden wir verhungern“, sagte Elise. „Ja. Langsam vielleicht – die Zeit funktioniert anders hier, auch unser Stoffwechsel. Aber irgendwann, ja. Obwohl…“ Sie zögerte. „Ich glaube, Er würde das nicht zulassen. Er würde neue Lieferanten finden. Neue Wege. Er hat immer Wege gefunden.“
„Aber das war vor über neunzig Jahren“, flüsterte Erik. „Wie könnt ihr noch—“
„Leben?“ Elise lächelte bitter. „Wir altern. Nur sehr, sehr langsam. Ein Jahr hier ist wie ein Monat draußen. Oder so fühlt es sich an. Die Zeit… funktioniert nicht richtig im Schloss. Manchmal sind Tage wie Minuten. Manchmal sind Minuten wie Tage. Er kontrolliert sie. Genauso wie Er uns kontrolliert.“
Erik lehnte sich zurück, sein Kopf drehte sich. Das war zu viel. Zu unmöglich. Aber die Beweise saßen vor ihm, lebendig und atmend und alt über jede menschliche Maßstäbe hinaus.
„Was ist Er?“, fragte Erik. „Dieser… Herr des Schlosses?“
Die Diener am Tisch wechselten nervöse Blicke. Keiner wollte antworten.
Schließlich sprach die junge Frau. „Wir wissen es nicht genau. Die ältesten Diener – die, die schon da waren, als wir kamen – sie nannten Ihn verschiedene Namen. Blutsauger. Nachtfürst. Unsterblicher. Aber das Wort, das sie am meisten benutzten…“ Sie zögerte, senkte die Stimme. „Vampir.“
Das Wort hing in der Luft wie ein Fluch.
„Er lebt von Blut“, fuhr Friedrich fort. „Nicht oft. Vielleicht einmal im Monat, vielleicht seltener. Aber wenn der Hunger kommt… dann jagt Er. Durch die Korridore, durch die Räume. Wir hören Ihn. Wir spüren Ihn. Und dann verschwindet einer von uns. Für eine Nacht. Wenn sie zurückkommen, sind sie schwach. Blass. Haben Wunden am Hals oder am Handgelenk. Aber sie leben. Er tötet uns nicht. Er braucht uns.“
„Als Nahrung“, flüsterte Erik.
„Als Diener“, korrigierte Elise. „Er ist allein hier. Seit Jahrhunderten. Er braucht jemanden, der sich um das Schloss kümmert. Der das Feuer am Brennen hält. Der… Gesellschaft leistet, in einer Weise. Wir sind sein Haushalt. Seine Gefangenen. Seine Familie.“
Erik spürte, wie ihm übel wurde. „Und jetzt bin ich hier.“
„Jetzt bist du hier“, bestätigte Friedrich. Er beugte sich vor, seine Augen intensiv. „Und du musst gehen, Erik. Jetzt sofort. Solange es noch hell ist. Solange Er schläft.“
„Er schläft?“
„Tagsüber. Meistens.“ Elise blickte zur Decke, als könnte sie durch die Stockwerke hindurch in den Westflügel sehen. „Aber wenn die Sonne untergeht… dann wacht Er auf. Und wenn Er dich riecht, dein frisches Blut, deine Jugend…“ Sie schauderte. „Er wird dich nicht gehen lassen. Genau wie Er uns nicht gehen ließ.“
„Wir haben die Nachrichten hinterlassen“, sagte Friedrich. „Die Briefe. Das Foto. In der Hoffnung, dass sie jemand finden würde. Dass jemand warnen würde. Aber du bist trotzdem gekommen.“
„Ich musste“, sagte Erik. „Ich musste wissen—“
„Und jetzt weißt du es.“ Friedrich stand auf. „Also geh. Bevor es zu spät ist.“
Erik stand ebenfalls auf, aber seine Beine fühlten sich wackelig an. „Was ist mit euch? Kann ich euch nicht—“
„Uns helfen?“ Elise lachte, ein hohles, verzweifeltes Geräusch. „Wir sind verloren, Erik. Seit Jahrzehnten. Aber du nicht. Nicht noch.“
Einer der anderen Diener – ein älterer Mann mit weißem Bart – sprach zum ersten Mal. „Es gibt einen Weg“, sagte er langsam. Seine Stimme klang wie zerbrochenes Glas. „Theoretisch. Um die Bindung zu brechen.“
Alle starrten ihn an.
„Ernst“, warnte Friedrich. „Sag ihm das nicht.“
„Er hat ein Recht es zu wissen“, beharrte der Alte. „Wenn jemand den Herrn töten könnte – wirklich töten, nicht nur verletzen – würde die Bindung brechen. Wir wären frei.“
„Das ist unmöglich“, sagte die junge Frau. „Dutzende haben es versucht. Im Laufe der Jahrhunderte. Jäger. Priester. Verrückte. Alle sind gescheitert.“
„Weil sie nicht wussten, wo sie suchen müssen“, erwiderte Ernst. „Aber wenn jemand den Westflügel betreten könnte. Wenn jemand Sein Versteck finden könnte, während Er schläft…“
„Du sprichst von Selbstmord“, zischte Elise.
„Ich spreche von einer Chance.“ Ernst sah Erik an. „Du hast den Schlüssel, nicht wahr? Wir haben dich in der Eingangshalle gesehen. Du hast etwas in deiner Tasche. Etwas, das hierher gehört.“
Eriks Hand fuhr unwillkürlich zu seiner Tasche, wo der eiserne Schlüssel lag. Wie hatten sie—
„Wir spüren es“, erklärte Ernst. „Gegenstände, die Ihm gehören. Sie tragen Seine Essenz. Und dieser Schlüssel… er öffnet die Tür zum Westflügel, nicht wahr?“
Erik nickte langsam.
„Dann hast du eine Wahl“, sagte Ernst. „Flieh. Jetzt. Und lebe mit dem Wissen, dass wir hier bleiben müssen, für immer. Oder…“ Er lehnte sich zurück. „Oder versuche, uns alle zu befreien.“
„Das ist Wahnsinn“, sagte Friedrich scharf. „Er ist ein Junge. Er hat keine Waffen, keine Erfahrung. Er würde nicht fünf Minuten im Westflügel überleben.“
„Vielleicht“, stimmte Ernst zu. „Aber vielleicht auch nicht. Manchmal bevorzugt das Schicksal die Unwissenden.“
Erik sah von einem zum anderen. Sein Kopf dröhnte. Vor einer Stunde wusste er noch nicht einmal, ob das Schloss real war. Jetzt stand er hier, umgeben von seinen unmöglichen Vorfahren, und sprach über die Ermordung eines Vampirs.
„Wie viel Zeit habe ich?“, fragte er.
Elise blickte zum Fenster – ein schmaler Schlitz hoch oben in der Wand. Das Licht, das durchfiel, war grau und schwach.
„Zwei Stunden“, sagte sie. „Vielleicht drei. Dann wird es dunkel. Und dann…“ Sie schluckte. „Dann wird Er wach.“
Erik nickte langsam. Er spürte das Gewicht des Schlüssels in seiner Tasche. Das Gewicht der Entscheidung.
„Zeigt mir den Weg“, sagte er. „Zum Westflügel.“
„Erik, nein—“ begann Friedrich.
„Zeigt ihn mir“, wiederholte Erik, und diesmal war seine Stimme fester. „Ich bin nicht hierhergekommen, um zu fliehen.“
Die Diener sahen ihn an. In ihren Augen lag eine Mischung aus Hoffnung und Verzweiflung und etwas anderem – Mitleid vielleicht.
Schließlich stand Ernst auf. „Komm“, sagte er. „Ich zeige es dir. Aber was danach geschieht…“ Er schüttelte den Kopf. „Das liegt bei dir. Und bei Ihm.“
Sie verließen den Gemeinschaftsraum, stiegen die Wendeltreppe wieder hinauf. Die Schatten waren länger geworden, Erik bemerkte es sofort. Das Licht, das durch die Fenster fiel, war rötlicher, schwächer. Die Sonne näherte sich dem Horizont.
Sie gelangten zurück zur Eingangshalle, dann weiter, durch einen Seitenflügel, den Erik zuvor nicht gesehen hatte. Die Korridore wurden prächtiger hier – Wandteppiche hingen noch an den Wänden, wenn auch zerfetzt, Gemälde von längst verstorbenen Adeligen starrten aus ihren Rahmen. Aber auch die Kälte war intensiver. Die Luft fühlte sich dick an, schwer, als würde sie sich gegen ihre Anwesenheit wehren.
Ernst blieb vor einer massiven Doppeltür stehen. Sie war aus dunklem Holz, verziert mit Schnitzereien, die Erik im schwachen Licht nicht genau erkennen konnte. Aber er meinte, Gesichter zu sehen. Schreiende Gesichter.
„Dahinter“, sagte Ernst leise, „beginnt der Westflügel. Niemand von uns war dort drin. Nicht seit… nun, seit sehr langer Zeit. Was auch immer du dort findest…“ Er schauderte. „Sei vorsichtig. Bleib im Licht, wenn du kannst. Und wenn du Stimmen hörst, Stimmen, die dir vertraut vorkommen – glaube ihnen nicht.“
„Was meinst du?“
„Er spielt mit Köpfen“, erklärte Ernst. „Er kann Stimmen nachahmen. Erinnerungen manipulieren. Du wirst Dinge sehen, die nicht real sind. Oder vielleicht sind sie real, aber nicht in der Art, wie du denkst. Trau deinen Sinnen nicht.“
Erik nickte, obwohl er nur halb verstand.
Ernst griff in seine Tasche und zog etwas heraus – eine kleine Glasflasche, gefüllt mit einer klaren Flüssigkeit. „Weihwasser“, sagte er. „Vielleicht hilft es. Vielleicht nicht. Aber es ist alles, was wir haben.“
Erik nahm die Flasche. Sie war warm, wärmer als sie sein sollte.
„Und das.“ Ernst reichte ihm eine zweite Flasche, diesmal aus Metall. „Öl. Für eine Fackel. Es gibt Halterungen in den Korridoren. Ohne Licht bist du verloren.“
„Danke“, murmelte Erik.
Ernst legte ihm kurz die Hand auf die Schulter. „Deine Urgroßeltern“, sagte er, „sie waren gute Menschen. Sie haben nicht verdient, was ihnen widerfahren ist. Keiner von uns hat das.“ Seine Augen wurden feucht. „Wenn du es schaffst… wenn du Ihn findest… zögere nicht. Was auch immer Er sagt, was auch immer Er verspricht – tue es.“
Dann drehte er sich um und ging zurück, seine Schritte hallten durch den leeren Korridor, bis sie im Nichts verschwanden.
Erik stand allein vor der Tür zum Westflügel.
Er holte den Schlüssel aus seiner Tasche. Im schwachen Licht glänzte das Eisen dunkel, fast schwarz. Die Ornamente schienen sich zu bewegen, als er ihn drehte, aber das war sicher nur die Müdigkeit, die Angst.
Das Schloss in der Tür war alt, verrostet. Aber als Erik den Schlüssel hineinsteckte, glitt er mühelos hinein, als wäre er erst gestern benutzt worden.
Er drehte ihn.
Ein Klicken. Dann ein tiefes, dröhnendes Geräusch, als würden Mechanismen tief in den Wänden zum Leben erwachen. Die Tür bebte.
Langsam, fast widerwillig, schwang sie auf.
Kalte Luft schlug Erik entgegen. Nicht nur kalt – eisig. Als würde er in einen Winterwald treten. Sein Atem kondensierte vor seinem Gesicht in dicken Wolken.
Hinter der Tür lag Dunkelheit. Vollständige, absolute Dunkelheit. Kein Fenster, kein Licht, nichts. Nur ein gähnender Schlund, der auf ihn wartete.
Erik nahm eine der Fackeln von der Wand neben sich, goss Öl darüber, entzündete sie mit dem Feuerzeug, das er noch in seiner Tasche hatte. Die Flamme flackerte auf, warf zitternde Schatten.
Er hielt sie vor sich, trat über die Schwelle.
Die Tür fiel hinter ihm zu.
Und in der Stille, die folgte, hörte er es.
Tief im Westflügel, irgendwo in der Dunkelheit.
Ein Atmen.
Langsam. Regelmäßig. Uralt.
Er wartete.
Die nächsten drei Kapitel werden am Sonntag, 7. Dezember veröffentlicht.