Kapitel 4 – Im Reich der Schatten
Die Fackel in Eriks Hand warf einen schwachen Lichtkreis, der kaum mehr als drei Meter weit reichte. Dahinter war nur Schwärze – eine Schwärze, die nicht einfach die Abwesenheit von Licht war, sondern etwas Substanzielleres. Etwas, das sich anfühlte, als könnte es ihn verschlingen.
Das Atmen war noch da. Tief. Gleichmäßig. Es kam von überall und nirgendwo zugleich, hallte durch die Wände, den Boden, die Luft selbst. Erik spürte, wie es in seinen Knochen vibrierte, wie es seinen eigenen Herzschlag zu überschreiben versuchte.
Er zwang sich, einen Schritt nach vorne zu machen. Dann einen weiteren.
Der Korridor war breiter als die anderen im Schloss. Die Wände waren aus dunklem Marmor, glatt und glänzend wie schwarzes Eis. An der Decke hingen die Reste von Kronleuchtern, ihre Kristalle längst zerbrochen und heruntergefallen. Der Boden war mit einem dicken, dunklen Teppich bedeckt, der seine Schritte dämpfte. Erik konnte nicht sagen, ob der Teppich einmal rot gewesen war oder ob das getrocknetes Blut war.
Er ging weiter. Die Fackel zitterte in seiner Hand, und er merkte, dass auch er zitterte. Die Kälte war durchdringend, kroch unter seine Kleidung, in seine Haut. Seine Finger wurden taub. Sein Atem kam in kurzen, hektischen Stößen.
Nach etwa zwanzig Metern erreichte er eine Kreuzung. Drei Korridore zweigten ab – links, rechts, und geradeaus. Alle gleich dunkel, alle gleich bedrohlich. Erik hielt die Fackel in jeden hinein, suchte nach einem Hinweis, einer Richtung.
Da sah er es.
Am Boden des linken Korridors. Spuren.
Keine Fußabdrücke. Sondern Kratzspuren. Lange, tiefe Furchen im Holzparkett, als hätte etwas Schweres – etwas mit Krallen – sich hier entlanggezogen. Die Spuren führten tiefer in die Dunkelheit.
Eriks Verstand schrie ihn an, dem nicht zu folgen. Aber wo sollte er sonst hingehen? Wenn der Vampir dort war, dann musste er ihn finden. Das war der einzige Weg.
Er bog nach links ab.
Der Korridor wurde enger. Die Wände rückten näher zusammen, die Decke senkte sich. Erik musste den Kopf einziehen, um nicht gegen die Balken zu stoßen. Die Kratzspuren wurden tiefer, zahlreicher. An einer Stelle war die Wand aufgerissen, als hätte etwas mit gewaltiger Kraft durch den Putz geschlagen.
Dann öffnete sich der Korridor plötzlich in einen großen Raum.
Erik hielt inne, hob die Fackel höher.
Es war eine Art Audienzsaal. Hoch und weitläufig, mit gewölbter Decke und Säulen, die wie versteinerte Riesen aus dem Boden ragten. An den Wänden hingen noch mehr Gemälde, aber diese waren anders als die im Rest des Schlosses. Sie zeigten keine Adligen oder Landschaften. Sie zeigten… Szenen.
Erik trat näher an eines heran. Sein Magen drehte sich um.
Das Gemälde zeigte Menschen. Dutzende von ihnen. Einige knieten, andere lagen am Boden. Und über ihnen, erhaben und monströs, stand eine Gestalt. Groß, dunkel, das Gesicht verborgen im Schatten. Aber man konnte die Augen sehen. Rote Augen, die aus der Leinwand heraus zu glühen schienen.
Und am Hals jedes Menschen: Bissspuren.
Erik wich zurück. Sein Fuß stieß gegen etwas. Er blickte nach unten.
Knochen.
Ein ganzer Haufen davon. Kleine Knochen, wie von Tieren. Ratten vielleicht, oder Vögeln. Aber daneben lagen auch größere. Längere. Menschliche.
Er unterdrückte den Impuls zu würgen, zwang sich weiterzugehen. Auf der anderen Seite des Saals befand sich eine weitere Tür, kleiner, halb verborgen hinter einem schweren Vorhang. Der Stoff war zerfetzt, hing in Fetzen herunter.
Erik schob ihn beiseite und trat durch die Tür.
Der Raum dahinter war klein. Fast intim. Eine Art Schlafzimmer, erkannte Erik. Ein massives Himmelbett stand gegen die Rückwand, seine Vorhänge zugezogen. Neben dem Bett ein Schreibtisch, bedeckt mit Papieren und Büchern. Ein hoher Spiegel stand in der Ecke, aber das Glas war zerbrochen, nur scharfe Scherben blieben im Rahmen.
Erik trat näher an den Schreibtisch. Die Bücher waren alt, die Einbände aus Leder, von Alter und Feuchtigkeit aufgequollen. Einige waren in Sprachen geschrieben, die er nicht kannte – Latein vielleicht, oder etwas Älteres. Aber eines lag aufgeschlagen, die Seiten mit einer engen, fließenden Handschrift bedeckt.
Ein Tagebuch.
Erik legte die Fackel auf den Tisch, begann zu lesen.
3. März 1847
Das Verlangen wird stärker. Früher konnte ich Monate warten zwischen den Fütterungen. Jetzt sind es Wochen. Manchmal Tage. Der Hunger ist ein lebendiges Ding, das in mir wächst, mich von innen aushöhlt. Ich spüre, wie meine Kontrolle bröckelt.
Die Diener fürchten mich. Gut. Furcht hält sie gehorsam. Aber ich sehe auch die Verzweiflung in ihren Augen. Das Wissen, dass sie nie entkommen werden. Dass sie mir gehören, so wie alles in diesen Mauern mir gehört.
Manchmal frage ich mich, ob es das wert war. Die Unsterblichkeit. Das ewige Leben. Was nützt es, für immer zu existieren, wenn man nur in Dunkelheit existieren kann? Wenn das Sonnenlicht zur Feind wird, wenn jeder Herzschlag, den man hört, nur ein Erinnern an das ist, was man verloren hat?
Aber dann kommt der Hunger zurück, und ich erinnere mich. Ich bin kein Mensch mehr. Ich bin mehr. Und weniger. Ich bin das, was übrig bleibt, wenn die Menschlichkeit stirbt.
Erik schlug die Seite um. Die nächsten Einträge waren kürzer, hastiger geschrieben.
12. August 1902
Ein neuer Diener heute. Hartmann, heißt er. Mit seiner Frau. Sie sind jung, voller Hoffnung. Sie werden lernen. Sie alle lernen, früher oder später.
Ich habe sie beobachtet durch die Wände. Er ist stark, sie ist klug. Sie könnten nützlich sein. Für eine Weile.
Eriks Atem stockte. Hartmann. Seine Urgroßeltern.
Er blätterte weiter, suchte nach mehr Erwähnungen. Die Einträge wurden unzusammenhängend, sprangen über Jahre.
7. Januar 1933
Die Hartmanns haben versucht zu fliehen. Wie vorhersehbar. Wie alle anderen vor ihnen. Ich habe sie zurückgebracht. Es war… befriedigend. Die Art, wie sie schrien, die Art, wie ihre Hoffnung zerbrach. Sie gehören mir jetzt. Wirklich gehören mir. Ihr Blut trägt meine Essenz. Sie werden nie wieder frei sein.
Erik ballte die Hände zu Fäusten. Wut kochte in ihm auf, heiß und wild. Dieses… Ding hatte seine Familie versklavt, hatte sie zu lebenden Gefangenen gemacht, hatte—
Ein Knarren. Leise, aber deutlich. Es kam von hinter ihm.
Vom Bett.
Erik wirbelte herum, griff nach der Fackel. Das Licht tanzte über die Vorhänge des Himmelbetts. Sie bewegten sich. Nur leicht, wie von einem Luftzug bewegt. Aber es gab keinen Luftzug. Keine offenen Fenster, keine Tür.
„Ist da jemand?“, flüsterte Erik. Seine Stimme klang dünn, zerbrechlich.
Aber die Vorhänge bewegten sich noch immer.
Erik zwang seine Füße, sich zu bewegen. Schritt für Schritt näherte er sich dem Bett. Die Fackel vor sich gehalten wie eine Waffe, als könnte Feuer ihn schützen vor dem, was auch immer dort lauerte.
Er erreichte die Vorhänge. Griff mit zitternder Hand nach dem Stoff.
Riss ihn zur Seite.
Das Bett war leer.
Keine Gestalt. Keine Person. Nur zerknitterte Laken, bedeckt mit einer dicken Staubschicht. Und in der Mitte, eingedrückt im Stoff, die Umrisse eines Körpers. Als hätte dort bis vor kurzem jemand gelegen.
Erik wich zurück. Sein Herz hämmerte so laut, dass es in seinen Ohren dröhnte. Das Atmen, das er zuvor gehört hatte, war verstummt. Die Stille war fast schlimmer.
Dann hörte er es.
Hinter sich.
Ein Flüstern.
„Erik.“
Seine eigene Stimme. Oder eine Imitation davon. So nah, dass er den Hauch auf seinem Nacken spürte.
Nichts. Nur der leere Raum, die Schatten, die von der Fackel geworfen wurden.
„Erik.“ Wieder. Diesmal von links. Nein, von rechts. Von überall.
„Zeig dich“, presste Erik hervor. „Ich weiß, dass du hier bist.“
Ein Lachen. Leise, fast liebevoll. Es schien aus den Wänden selbst zu kommen.
„So mutig“, sagte die Stimme. Nicht seine eigene jetzt. Eine andere. Tiefer, älter, mit einem Akzent, den Erik nicht einordnen konnte. „So dumm.“
Ein Schatten bewegte sich. Am Rand des Lichts, kaum sichtbar. Menschenförmig, aber zu groß, zu lang. Die Arme hingen tiefer als sie sollten, die Finger kratzten fast über den Boden.
„Du bist in meinem Heim“, sagte die Stimme. „Uninvited. Unbidden. Und doch… erwartet.“
„Erwartet?“, zwang Erik heraus.
„Natürlich.“ Der Schatten glitt näher. Nicht gehend, nicht bewegend sich wie ein Mensch würde. Gleitend. „Ich habe deine Ankunft gespürt. Das frische Blut in deinen Adern. Die Jugend, die von dir strahlt. Es war… berauschend.“
Erik hob die Fackel höher. Das Licht erreichte den Schatten, aber er löste sich nicht auf. Er blieb dort, gerade außerhalb des vollen Lichts, eine Silhouette, die niemals ganz Form annahm.
„Wer bist du?“, fragte Erik, obwohl er die Antwort bereits kannte.
„Ich?“ Ein weiteres Lachen. „Ich bin der Herr dieses Schlosses. Der Wächter dieser Hallen. Der Trinker, der Nehmer, der Ewige. Ich habe viele Namen. Aber für dich…“ Der Schatten neigte sich näher, und Erik konnte nun Details erkennen. Eine blasse Hand, die Finger lang und spindeldürr. Ein Gesicht, nur teilweise sichtbar – eine hohe Stirn, scharfe Wangenknochen, und Augen, die im Dunkeln glühten wie Kohlen.
„Für dich“, wiederholte die Stimme, „bin ich dein Fluch. Dein Untergang. Genau wie ich es für deine Vorfahren war.“
„Du hast sie versklavt“, sagte Erik. Wut überwältigte die Angst. „Du hast ihnen ihr Leben gestohlen.“
„Gestohlen?“ Der Schatten lachte wieder. „Ich habe ihnen ein Geschenk gegeben. Unsterblichkeit. Ewigkeit. Sie werden nie sterben, solange dieses Schloss steht. Ist das nicht, wonach alle Menschen streben?“
„Sie sind Gefangene.“
„Alle Menschen sind Gefangene“, erwiderte die Stimme. „Gefangen in ihren sterblichen Körpern, in ihrer Angst vor dem Tod. Ich habe sie nur von einem Gefängnis in ein anderes versetzt. Eines, das ich kontrolliere.“
Eriks Griff um die Fackel versteifte sich. „Ich werde dich töten“, sagte er. Seine Stimme zitterte, aber die Worte kamen trotzdem heraus. „Ich werde sie befreien.“
Die Stille, die folgte, war absolut.
Dann explodierte der Raum in Bewegung.
Der Schatten schoss vorwärts, unnatürlich schnell. Erik hatte keine Zeit zu reagieren. Etwas schlug die Fackel aus seiner Hand, sie flog durch die Luft, prallte gegen die Wand. Die Flamme erlosch.
Dunkelheit verschlang alles.
Erik stolperte rückwärts, seine Hände tasteten blindlings. Er traf auf den Schreibtisch, Bücher fielen herunter, krachten auf den Boden. Er hörte das Atmen wieder, jetzt ganz nah. Spürte Kälte um sich herum, als würde die Luft selbst gefrieren.
„Töten mich?“, flüsterte die Stimme direkt an seinem Ohr. „Viele haben es versucht, Erik. Alle sind gescheitert. Weißt du warum?“
Erik konnte nicht antworten. Er konnte kaum atmen.
„Weil ich kein einfaches Monster bin. Ich bin Teil dieses Schlosses. Das Schloss ist Teil von mir. Solange diese Mauern stehen, kann ich nicht sterben. Jeder Stein, jeder Balken, jeder Schatten – alles gehört mir.“
Etwas berührte Eriks Gesicht. Kalt. Rau wie Sandpapier. Finger, erkannte er. Die langen, dünnen Finger, die er zuvor gesehen hatte. Sie glitten über seine Wange, seinen Kiefer, seinen Hals. Tasteten nach der Pulsader.
„So zart“, murmelte die Stimme. „So warm. Es wäre so leicht, dich jetzt zu nehmen. Dein Blut zu kosten. Dich zu einem der Meinen zu machen.“
Eriks Hand schloss sich um etwas. Die Flasche. Das Weihwasser, das Ernst ihm gegeben hatte. Mit zitternden Fingern schraubte er den Deckel ab, schleuderte den Inhalt in die Richtung, aus der die Stimme kam.
Ein Zischen. Ein Schrei – nicht menschlich, eher wie das Kreischen von Metall auf Stein. Die Berührung an seinem Hals verschwand. Erik stürzte nach vorne, stolperte über seine eigenen Füße, fiel.
Licht. Er brauchte Licht.
Seine Hände tasteten über den Boden, suchten die Fackel. Seine Finger schlossen sich um Holz. Er zog das Feuerzeug aus seiner Tasche, seine Hände so sehr zitternd, dass er es zweimal fallen ließ, bevor er es festhalten konnte.
Ein Funke. Dann noch einer. Die Flamme entzündete sich.
Das Licht flackerte auf, erhellte den Raum.
Leer.
Der Schatten war verschwunden. Der Raum war wieder, wie er es gewesen war. Still. Tot. Nur Eriks keuchender Atem durchbrach die Stille.
Aber auf dem Boden, dort wo er das Weihwasser geschleudert hatte, war eine Markierung. Verbrannt in den Holzboden, rauchend noch. Die Umrisse einer Hand. Einer unmenschlichen Hand, die Finger zu lang, die Krallen zu scharf.
Erik stand auf, seine Beine kaum fähig, ihn zu tragen. Er musste hier raus. Musste zurück. Zurück zu den Dienern, zu den Lebenden, zum Licht.
Er stolperte zur Tür, riss sie auf, rannte durch den Audienzsaal. Die Gemälde an den Wänden schienen ihm zu folgen mit ihren Blicken, die roten Augen in den Bildern verfolgten jede seiner Bewegungen.
Er erreichte den Korridor, folgte den Kratzspuren zurück. Seine Lungen brannten, sein Herz drohte aus seiner Brust zu springen.
Hinter sich hörte er es. Das Atmen. Näher jetzt. Schneller.
Er wurde gejagt.
Erik rannte schneller. Die Fackel in seiner Hand schwankte wild, warf verrückte Schatten an die Wände. Vor ihm erschien die Kreuzung, dann der Hauptkorridor.
Die Doppeltür. Er konnte sie sehen. Noch offen, wie er sie gelassen hatte.
Er stürzte hindurch, schlug die Tür hinter sich zu, lehnte sich dagegen. Sein ganzer Körper zitterte. Schweiß lief ihm über das Gesicht, mischte sich mit Tränen, die er nicht bemerkt hatte zu weinen.
Für einen langen Moment stand er nur dort, atmete, versuchte sein rassendes Herz zu beruhigen.
Von der anderen Seite der Tür.
Ein langsames, methodisches Kratzen. Als würde etwas seine Krallen über das Holz ziehen. Auf und ab. Auf und ab.
Und dann, so leise, dass Erik dachte, er hätte es sich eingebildet:
„Lauf nur, kleiner Hartmann. Das Spiel hat gerade erst begonnen.“
Erik löste sich von der Tür, stolperte rückwärts. Die Fackel fiel aus seiner Hand, rollte über den Boden. Er drehte sich um, rannte.
Durch die Korridore, die Treppen hinunter, zurück zum Gemeinschaftsraum. Die Tür stand offen. Licht und Wärme strömten heraus.
Er stürzte hinein.
Die Diener saßen noch immer am Tisch. Sie hoben die Köpfe, als er eintrat. Ihre Gesichter waren bleich, ihre Augen weit.
Elise stand auf. „Erik“, flüsterte sie. „Was hast du getan?“
Er konnte nicht antworten. Er sank auf eine Bank, sein ganzer Körper bebte.
Friedrich trat näher, legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Du warst dort drinnen“, sagte er. Es war keine Frage. „Du hast Ihn getroffen.“
Erik nickte.
„Und du lebst noch.“ Ernst klang beinahe überrascht. „Das ist… bemerkenswert.“
„Er wollte mich nicht töten“, brachte Erik heraus. Seine Stimme war heiser. „Er sagte… es wäre ein Spiel.“
Die Diener wechselten düstere Blicke.
„Er spielt immer“, sagte die junge Frau leise. „Er jagt. Er quält. Und am Ende…“ Sie verstummte.
„Am Ende nimmt Er dich“, beendete Elise den Satz. „So wie Er uns alle genommen hat.“
Erik blickte zum Fenster. Das Licht draußen war fast verschwunden. Der Himmel hatte sich von Grau zu einem tiefen, dunklen Violett verfärbt.
Die Sonne ging unter.
„Es ist Zeit“, sagte Friedrich. „Wir müssen in unsere Zimmer. Die Türen verriegeln. Und beten, dass Er heute Nacht nicht hungrig ist.“
„Was ist mit mir?“, fragte Erik.
„Du bleibst hier bei uns“, sagte Elise. Sie deutete auf eine kleine Kammer neben dem Gemeinschaftsraum. „Dort. Es gibt ein Bett, eine Tür mit einem starken Riegel. Es ist nicht viel, aber…“
„Aber es ist besser als dort draußen“, sagte Ernst. „Wenn Er wirklich wach ist, wenn Er jagt… dann willst du nicht in den Korridoren sein.“
Erik folgte ihnen in die Kammer. Sie war klein, spartanisch eingerichtet. Ein schmales Bett, eine Waschschüssel, eine einzelne Kerze auf einem Tisch.
„Lösch das Licht nicht“, warnte Friedrich. „Er meidet Feuer nicht, aber es verlangsamt Ihn. Gibt dir zumindest eine Warnung.“
„Und wenn ich Geräusche höre?“ fragte Erik.
„Ignoriere sie“, sagte Elise fest. „Egal was du hörst. Stimmen, Schreie, Klopfen. Reagiere nicht. Öffne nicht. Er versucht dich herauszulocken.“
Sie verließen ihn. Erik schob den Riegel vor die Tür, überprüfte ihn zweimal. Dann setzte er sich auf das Bett, starrte auf die Kerze.
Die Stille des Schlosses legte sich über ihn wie eine schwere Decke.
Und dann, ganz weit entfernt, hörte er es.
Schritte.
Langsame, schwere Schritte.
Sie kamen näher.
Erik blies die Kerze nicht aus. Er bewegte sich nicht. Er wagte kaum zu atmen.
Die Schritte näherten sich. Hielten vor seiner Tür an.
Stille.
Dann ein leises, kratzendes Geräusch. Wie Fingernägel auf Holz.
„Erik“, flüsterte eine Stimme. Seine Großmutter. Oder zumindest klang es so. „Bitte. Lass mich rein. Ich habe Angst. Er kommt.“
Erik ballte die Hände zu Fäusten. Presste sie gegen seine Ohren. Aber die Stimme drang durch.
„Erik, bitte. Es ist kalt hier draußen. So kalt. Ich brauche dich.“
Tränen liefen ihm über die Gesicht. Aber er bewegte sich nicht. Ernst hatte ihn gewarnt. Glaube den Stimmen nicht.
Das Klopfen wurde härter. Verzweifelter.
„FELIX!“
Dann, abrupt, Stille.
Die Schritte entfernten sich. Wurden leiser. Verschwanden.
Erik saß dort auf dem Bett, seinen ganzen Körper angespannt, bereit zu fliehen, zu kämpfen, zu schreien.
Aber nichts geschah.
Die Nacht zog sich endlos hin.
Und Erik wartete auf den Morgen.
„JONAS!“
Kapitel 5 – Das Licht, das nicht rettet
Der Morgen kam nicht wie erwartet. Es gab keinen plötzlichen Sonnenaufgang, kein erlösendes Licht, das durch die Fenster strömte. Stattdessen wurde die Dunkelheit nur langsam weniger absolut, verwandelte sich von Schwarz zu Grau, von Grau zu einem schmutzig-fahlen Dämmerlicht.
Erik hatte nicht geschlafen. Konnte nicht schlafen. Er hatte die ganze Nacht auf dem Bett gesessen, den Rücken gegen die Wand gepresst, die Augen auf die Tür gerichtet. Die Kerze war fast heruntergebrannt, nur noch ein wachsiger Stummel, der in einer Pfütze aus geschmolzenem Wachs ertrank.
Die Geräusche hatten um Mitternacht aufgehört. Oder was er für Mitternacht hielt – ohne Uhr, ohne natürliches Licht, war es unmöglich zu sagen. Die Schritte, das Kratzen, die Stimmen – alles war verstummt, als hätte das Schloss selbst den Atem angehalten.
Aber die Stille war fast schlimmer gewesen. Darin hatte Erik jedes Knarren des alten Gebäudes gehört, jedes Seufzen der Wände, jedes entfernte Tropfen von Wasser. Und in jedem dieser Geräusche hatte er die Anwesenheit gespürt. Die Gewissheit, dass etwas dort draußen wartete. Beobachtete.
Jetzt, im grauen Morgenlicht, wagte er sich aufzustehen. Seine Beine waren steif, seine Schultern schmerzten. Er ging zur Tür, legte das Ohr gegen das Holz. Lauschte.
Nichts.
Mit zitternden Fingern schob er den Riegel zurück. Öffnete die Tür einen Spalt.
Der Gemeinschaftsraum war leer. Das Feuer im Herd war heruntergebrannt zu glühenden Kohlen. Der Tisch war aufgeräumt, die Bänke ordentlich an ihren Plätzen. Als wäre nichts geschehen.
Erik trat hinaus. Der Steinboden war kalt unter seinen Füßen – er hatte vergessen, seine Schuhe auszuziehen. Hatte nicht daran gedacht. Hatte nur an Überleben gedacht.
„Du hast es überstanden.“
Erik fuhr herum. Elise stand in der Tür zur Küche, eine Schüssel in den Händen. Sie sah müde aus, noch blasser als gestern, die Schatten unter ihren Augen tiefer. Aber sie lächelte. Ein schwaches, trauriges Lächeln.
„Die erste Nacht ist immer die schlimmste“, sagte sie. „Man weiß nicht, was man erwarten soll. Die Angst… sie frisst einen auf.“
„Er war hier“, sagte Erik. Seine Stimme war heiser vom Nicht-Sprechen. „Vor meiner Tür. Er hat… er hat deine Stimme benutzt.“
Elises Lächeln verschwand. „Das tut Er oft. Er kennt uns alle so gut. Unsere Stimmen, unsere Gesichter, unsere Ängste. Er spielt damit.“
Sie stellte die Schüssel auf den Tisch. „Komm. Iss etwas. Du brauchst Kraft.“
Erik setzte sich. Die Schüssel enthielt eine Art Brei, dazu ein Stück hartes Brot. Es sah nicht appetitlich aus, aber sein Magen knurrte. Wie lange war es her, seit er gegessen hatte? Gestern Morgen? Länger?
Er aß mechanisch, schmeckte kaum etwas. Elise setzte sich ihm gegenüber, beobachtete ihn mit ihren alten-jungen Augen.
„Du bist in den Westflügel gegangen“, sagte sie schließlich. „Ernst hat es mir erzählt. Du hast Ihn getroffen.“
„Und Er hat dich leben lassen.“ Sie lehnte sich zurück. „Das bedeutet, Er hat Interesse an dir. Das ist… kompliziert.“
„Kompliziert wie?“
„Manchmal tötet Er sofort. Jene, die Ihm nicht gefallen, die Ihm nichts bieten. Andere… andere hält Er. Spielt mit ihnen. Bricht sie langsam.“ Sie sah ihm in die Augen. „Und dann gibt es die, die Er verwandelt. Die Er zu den Seinen macht.“
„Wie Thomas“, murmelte Erik.
„Wie Thomas. Und wie viele andere vor und nach ihm.“ Elise faltete ihre Hände auf dem Tisch. „Du musst heute gehen, Erik. Jetzt, während Er schläft. Pack deine Sachen, geh durch das Tor, und schau nicht zurück.“
„Aber ihr—“
„Wir sind verloren. Das haben wir dir schon gesagt. Aber du nicht. Noch nicht.“ Ihre Stimme wurde eindringlich. „Eine weitere Nacht hier, und Er wird stärker. Seine Bindung an dich wird fester. Und irgendwann, vielleicht in der dritten Nacht, vielleicht in der zehnten, wirst du nicht mehr gehen können. Genau wie wir.“
Erik legte den Löffel hin. „Er sagte, Er sei Teil des Schlosses. Dass man Ihn nicht töten kann, solange diese Mauern stehen.“
„Das sagt Er immer.“ Friedrich trat aus einem der Seitenzimmer, gefolgt von Ernst und den anderen Dienern. Sie alle sahen erschöpft aus, als hätten auch sie nicht geschlafen. „Aber die Frage ist: Stimmt es?“
„Du glaubst, es könnte eine Lüge sein?“ fragte Erik.
„Ich glaube, dass Vampire lügen“, sagte Ernst. Er setzte sich, lehnte sich schwer auf seinen Stock. „Das ist ihre Natur. Täuschung, Manipulation. Warum sollten wir annehmen, dass Er die Wahrheit spricht?“
„Aber wenn es wahr ist“, warf die junge Frau ein – Erik hatte ihren Namen noch immer nicht gehört – „dann ist jeder Versuch, Ihn zu töten, sinnlos. Dann können wir nur das Schloss zerstören.“
„Das Schloss zerstören“, wiederholte Friedrich langsam. „Das ist… das würde bedeuten, es niederzubrennen.“
„Oder die Wände einzureißen“, sagte Ernst. „Oder beides.“
„Aber wie?“ Erik blickte um sich. „Es ist riesig. Aus Stein. Es würde Tage dauern, Wochen, um genug Schaden anzurichten.“
„Nicht unbedingt.“ Ernst stand auf, ging zu einem Schrank in der Ecke. Er öffnete ihn, kramte darin herum, zog schließlich einen vergilbten Plan heraus. Er breitete ihn auf dem Tisch aus.
Es war ein Bauplan des Schlosses. Detailliert, mit allen Flügeln, allen Stockwerken. Erik beugte sich darüber, versuchte die Linien und Notizen zu entziffern.
„Hier“, sagte Ernst und deutete auf einen zentralen Punkt. „Der Hauptturm. Der älteste Teil des Schlosses. Alles andere wurde später darum herumgebaut. Wenn dieser Turm fiele, würde die Struktur des gesamten Gebäudes instabil werden.“
„Und wie sollen wir einen Turm zum Einsturz bringen?“ fragte die junge Frau skeptisch.
„Feuer“, sagte Ernst schlicht. „Die Balken im Inneren sind aus Holz. Jahrhunderte alt, trocken wie Zunder. Wenn man ein Feuer im richtigen Winkel legt, die richtigen Stützbalken anzündet… der Turm würde in sich zusammenfallen. Und mit ihm das halbe Schloss.“
„Und wir würden darin sein“, sagte Elise leise. „Wir können das Gelände nicht verlassen, erinnerst du dich? Wenn das Schloss fällt, fallen wir mit ihm.“
Stille legte sich über den Raum. Die Diener sahen einander an, und in ihren Blicken lag eine Mischung aus Hoffnung und Resignation.
„Vielleicht“, sagte Friedrich schließlich, „ist das ein Preis, der es wert ist. Endlich zu ruhen. Wirklich zu sterben, anstatt in dieser Halbexistenz gefangen zu sein.“
„Sprich für dich selbst“, zischte die junge Frau. „Ich bin noch nicht bereit zu sterben.“
„Du bist schon gestorben“, erwiderte Ernst ruhig. „Wir alle sind es. Im Moment, als wir hier gebunden wurden, sind unsere wahren Leben geendet. Was wir jetzt haben… das ist nur ein Echo.“
Erik betrachtete sie alle. Diese Menschen – seine Familie, Fremde, Leidensgenossen. Gefangen in einem Alptraum, der Jahrzehnte, Jahrhunderte dauerte.
„Ich werde es tun“, sagte er.
Alle Köpfe drehten sich zu ihm.
„Ich werde den Turm anzünden“, fuhr Erik fort. Seine Stimme wurde fester, entschlossener. „Heute. Jetzt. Während Er schläft.“
„Erik, nein—“ begann Elise.
„Ihr könnt nicht gehen. Aber ich kann. Wenn ich das Feuer lege und dann fliehe, wenn ich sicherstelle, dass ihr alle hinauskommt, sobald die Flammen hoch genug sind, dass Er zu abgelenkt ist, um euch zu stoppen—“
„Es wird nicht funktionieren“, unterbrach Friedrich. „Seine Bindung an uns ist zu stark. Selbst wenn das Schloss brennt, selbst wenn Er stirbt, könnte die Bindung bestehen bleiben. Wir könnten hier festsitzen, in den Ruinen, für immer.“
„Oder“, sagte Ernst, „die Bindung könnte mit Seinem Tod brechen. Wir wissen es nicht. Wir haben es nie versucht.“
„Weil es Selbstmord wäre“, sagte die junge Frau.
„Wir sind bereits tot“, wiederholte Ernst. „Was haben wir zu verlieren?“
Erik griff nach dem Bauplan, studierte ihn genauer. „Wo genau im Turm? Welche Etage?“
Ernst deutete auf eine Stelle etwa in der Mitte. „Dort. Der Rittersaal. Er erstreckt sich über zwei Stockwerke, die Decke wird von sechs Hauptbalken getragen. Wenn die brennen, wenn die Decke fällt… der ganze Turm wird folgen.“
„Wie komme ich dorthin?“
„Durch den Westflügel.“ Friedrichs Stimme war angespannt. „Der Rittersaal liegt direkt dahinter. Du müsstest durch Sein Territorium.“
„Ich habe es einmal geschafft“, sagte Erik. „Ich kann es wieder schaffen.“
„Das erste Mal warst du eine Überraschung“, sagte Elise. „Diesmal wird Er auf dich warten.“
„Nicht unbedingt.“ Ernst faltete den Plan zusammen. „Er schläft tagsüber. Tief. Die Sonne schwächt Ihn, auch wenn sie das Schloss nicht direkt erreicht. Wenn du schnell bist, vorsichtig… du könntest es schaffen.“
Erik nickte. Eine seltsame Ruhe hatte sich über ihn gelegt. Die Angst war noch da, tief in seinem Inneren, aber sie wurde überlagert von Entschlossenheit. Von dem Wissen, dass dies der einzige Weg war.
„Ich brauche Öl“, sagte er. „Viel davon. Und etwas zum Anzünden.“
„Wir haben Lampenöl“, sagte Friedrich. „Fässer davon, im Keller. Für die Fackeln, die Lampen. Es ist alt, aber es brennt.“
„Gut.“ Erik stand auf. „Zeigt es mir.“
Sie führten ihn tiefer hinunter, in Kellerräume, die noch niedriger und kälter waren als der Gemeinschaftsraum. Zwischen verfallenen Vorräten und rostigen Werkzeugen standen mehrere Fässer, beschriftet mit verblasster Schrift. Eines davon war halb voll mit einer öligen, bernsteinfarbenen Flüssigkeit.
„Das sollte reichen“, sagte Ernst. Er half Erik, das Fass auf einen kleinen Wagen zu heben. „Aber du musst vorsichtig sein. Wenn du zu viel auf einmal verwendest, wird die Explosion dich töten.“
„Besser als das, was Er mit mir machen würde“, murmelte Erik.
Sie brachten den Wagen zurück nach oben, durch die verwinkelten Korridore. Eriks Herz hämmerte mit jedem Schritt. Er versuchte, nicht an das zu denken, was vor ihm lag. An die Dunkelheit des Westflügels. An die Stimme, die ihm ins Ohr geflüstert hatte. An die kalten Finger auf seiner Haut.
Sie erreichten die Doppeltür. Sie stand noch immer einen Spalt offen, genau wie Erik sie verlassen hatte. Kein Geräusch kam von der anderen Seite. Keine Bewegung.
„Er ist dort drin“, flüsterte Elise. „Irgendwo. Schlafend. Aber Sein Schlaf ist nicht wie unserer. Er kann… Dinge spüren. Störungen.“
„Ich werde leise sein“, sagte Erik.
Friedrich legte ihm eine Hand auf die Schulter. Zum ersten Mal berührte ihn sein Urgroßvater wirklich, und Erik spürte, wie dünn die Haut war, wie kalt die Finger. Wie sehr dieser Mann – diese Menschen – gelitten hatten.
„Wenn du es nicht schaffst“, sagte Friedrich, „wenn Er dich erwischt… versuche nicht zu kämpfen. Lauf. Komm zurück zu uns. Wir werden dich schützen, so gut wir können.“
Erik nickte. Er wollte etwas sagen, etwas Bedeutungsvolles, aber die Worte blieben in seiner Kehle stecken. Also schob er einfach die Tür auf und zog den Wagen hindurch.
Die Kälte traf ihn sofort. Noch schlimmer als gestern. Als würde die Luft selbst versuchen, ihn zurückzudrängen. Erik zündete eine Fackel an, hielt sie hoch.
Der Korridor war leer. Aber die Kratzspuren waren noch da, tiefer jetzt, als hätte etwas in der Nacht hier gewütet.
Erik begann zu gehen. Langsam, vorsichtig. Der Wagen quietschte leise mit jedem Schritt, und er zuckte jedes Mal zusammen. Aber nichts regte sich. Keine Schatten sprangen hervor. Keine Stimmen riefen seinen Namen.
Er folgte dem Plan in seinem Kopf. Links an der Kreuzung. Dann geradeaus, durch den Audienzsaal mit den schrecklichen Gemälden. Dann eine weitere Tür, schmaler, fast verborgen hinter einem zerfledderten Wandteppich.
Er fand sie. Schob sie auf.
Dahinter lag eine Treppe. Spiralförmig, nach oben windend. Die Stufen waren aus Stein, ausgetreten und glatt. Erik begann hinaufzusteigen, zog den Wagen hinter sich her. Es war mühsam, das Fass schwer, die Räder hakten an jeder Unebenheit.
Aber er stieg weiter.
Ein Stockwerk. Zwei. Drei.
Die Luft wurde dünner, staubiger. Spinnweben hingen von der Decke, so dick, dass sie wie Vorhänge aussahen. Erik musste sie mit der Fackel wegbrennen, um weiterzukommen.
Und dann, nach dem vierten Stockwerk, öffnete sich die Treppe in einen großen Raum.
Der Rittersaal.
Erik hielt inne, atmete aus.
Der Saal war gewaltig. Hohe Decken, gestützt von massiven Holzbalken, die mit kunstvollen Schnitzereien bedeckt waren. An den Wänden hingen rostige Rüstungen, zerbrochene Waffen, verblasste Banner. In der Mitte des Raums stand ein langer Tisch, gefallen und in Stücke zerbrochen, als hätte jemand ihn mit gewaltiger Kraft zertrümmert.
Und überall – auf dem Boden, auf den Wänden, an der Decke – Blutspuren.
Alte Spuren, längst getrocknet, aber unverkennbar. So viele, dass Erik nicht zählen konnte. Wie viele Menschen waren hier gestorben? Wie viele hatte Er hierher gebracht, um… was? Sich zu ernähren? Zu spielen? Zu töten?
Erik zwang sich weiterzugehen. Er rollte den Wagen zur Mitte des Saals, unter einen der größten Balken. Dann begann er, das Öl auszugießen.
Es rann langsam, dickflüssig, verteilte sich über den Boden. Erik arbeitete methodisch, goss eine Linie entlang der Wände, um die Balken herum, über die zerbrochenen Möbel. Der Geruch war überwältigend, stechend, machte seine Augen tränen.
Als das Fass halb leer war, hörte er es.
Einen Herzschlag.
Nein, kein Herzschlag. Zu langsam dafür. Zu unregelmäßig. Aber ein rhythmisches Pochen, das durch den Boden vibrierte. Von unten kommend. Aus den Tiefen des Turms.
Erik erstarrte. Lauschte.
Das Pochen wurde lauter. Näher.
Er wachte auf.
„Scheiße“, flüsterte Erik. Er goss das restliche Öl aus, in Eile jetzt, die Flüssigkeit spritzte über seine Hände, seine Kleidung. Dann warf er das leere Fass beiseite, griff nach der Fackel.
Das Pochen verwandelte sich in Schritte. Schwere, schleppende Schritte. Sie kamen die Treppe herauf, die Erik gerade hochgestiegen war.
Er konnte nicht zurück. Der einzige Weg führte weiter nach oben, zu einem kleinen Fenster, das er am anderen Ende des Saals sehen konnte. Oder…
Oder er beendete es jetzt.
Erik warf die Fackel.
Sie landete mitten in der Öllache.
Für einen Herzschlag passierte nichts.
Dann explodierte die Welt in Flammen.
Das Feuer raste über den Boden, kletterte die Wände hinauf, sprang von Balken zu Balken. Die Hitze war sofort überwältigend, schob Erik zurück. Er hörte das Holz knacken, das Feuer brüllen wie ein lebendiges Ding.
Die Schritte auf der Treppe hielten inne.
Dann ein Schrei. Nicht menschlich. Wütend. Qual und Zorn vereint in einem Geräusch, das Eriks Knochen vibrieren ließ.
Er rannte. Über den brennenden Boden, zwischen den Flammen hindurch, zum Fenster. Es war vergittert, die Stäbe rostig aber fest. Erik zerrte an ihnen, aber sie gaben nicht nach.
Hinter ihm explodierte etwas. Ein Balken, der unter der Hitze barst. Flammen schossen zur Decke, fraßen sich in das alte Holz.
Erik drehte sich um.
Und sah Ihn.
In der Türöffnung. Halb verborgen von Rauch und Flammen. Aber deutlich genug.
Die Gestalt war groß. Zu groß. Die Proportionen waren falsch, die Arme zu lang, der Kopf zu schmal. Die Kleidung war zerfetzt, hing in Fetzen an einem ausgemergelten Körper. Und das Gesicht…
Erik konnte es nicht direkt ansehen. Sein Verstand weigerte sich, die Details zu verarbeiten. Nur Eindrücke blieben: Blasse Haut, straff über Knochen gespannt. Augen, die rot glühten im Feuerschein. Ein Mund, zu weit geöffnet, voller Zähne, die zu scharf waren, zu viele.
„Du“, sagte die Gestalt. Die Stimme war die gleiche wie in der Nacht. Aber verzerrt jetzt. Wütend. „Du wagst es.“
Er schritt durch die Flammen. Sie schienen Ihm nichts auszumachen, leckten an seiner Kleidung, seiner Haut, aber verbrannten nicht. Er kam näher, langsam, genüsslich.
„Ich werde dich für dies leiden lassen“, sagte Er. „Jahrzehnte. Jahrhunderte. Du wirst wünschen, ich hätte dich einfach getötet.“
Erik presste sich gegen die Wand. Es gab keinen Ausweg. Die Flammen blockierten jeden Fluchtweg. Die Gestalt kam näher. Erik konnte Ihn jetzt deutlicher sehen, konnte Details erkennen, die er nicht sehen wollte. Die unnatürliche Art, wie Er sich bewegte. Die Krallen an den Fingerspitzen. Die—
Ein Knarren. Laut. Von oben.
Erik blickte nach oben.
Die Decke. Die Balken. Sie brannten jetzt alle, orange und schwarz und weiß-heiß. Und einer von ihnen – der größte, der zentrale – zeigte Risse.
Die Gestalt bemerkte es auch. Hielt inne. Blickte nach oben.
„Nein“, flüsterte Er.
Der Balken brach.
Er fiel, ein gewaltiger, brennender Baumstamm, direkt auf die Gestalt. Ein Schrei ertönte, durchdringend, unmenschlich. Dann wurde er von dem Donner des Aufpralls übertönt.
Staub und Rauch explodierten in alle Richtungen. Erik konnte nichts sehen, konnte kaum atmen. Er stolperte zur Seite, weg von wo die Gestalt gewesen war.
Die Decke brach weiter auf. Mehr Balken fielen. Steine brachen aus den Wänden. Der gesamte Turm bebte.
Erik fand eine Öffnung. Nicht das Fenster, sondern ein Riss in der Wand, wo ein Stein herausgefallen war. Er zwängte sich hindurch, seine Hände aufgeschürft an dem rauen Gestein.
Er fiel.
Nur ein paar Meter, auf ein niedrigeres Dach. Sein Knöchel drehte sich, Schmerz schoss durch sein Bein. Aber er stand auf, humpelte weiter, über das Dach, zu einer anderen Öffnung.
Hinter ihm begann der Turm zu fallen. Langsam zuerst, dann schneller. Erik konnte das Geräusch hören, das Grollen und Krachen von brechendem Stein und Holz.
Er fand eine Treppe. Rannte hinunter. Ein Stockwerk. Zwei. Die Wände bebten um ihn herum. Putz regnete von der Decke.
Weiter. Immer weiter.
Er erreichte den Hof. Stolperte nach draußen, ins graue Tageslicht.
Drehte sich um.
Der Turm fiel. Majestätisch, schrecklich, wie ein gefällter Baum. Er kippte zur Seite, riss Teile der angrenzenden Wände mit sich. Staub stieg auf, eine riesige Wolke, die den halben Hof verschluckte.
Und dann, mit einem letzten, gewaltigen Krachen, traf der Turm den Boden.
Die Erschütterung warf Erik von den Füßen. Er landete hart, schmeckte Blut.
Für einen langen Moment war alles still.
Dann hörte er Rufe. Stimmen. Die Diener kamen aus dem Haupteingang gerannt, ihre Gesichter voller Schock und Hoffnung und Angst.
„Erik!“ Elise erreichte ihn zuerst, kniete neben ihm nieder. „Du lebst. Oh Gott, du lebst.“
„Der Turm“, keuchte Erik. „Ist Er—“
„Wir wissen es nicht“, sagte Friedrich. Er stand da, starrte auf die Trümmer. „Aber wenn irgendetwas Ihn töten konnte, dann das.“
Ernst trat näher an die Staubwolke heran. „Die Bindung“, murmelte er. „Ich spüre… etwas hat sich verändert.“
Die junge Frau hielt ihre Hand hoch, spreizte die Finger. „Ich fühle es auch. Als hätte sich eine Kette gelockert. Nur ein wenig. Aber…“
„Aber genug?“ fragte Elise hoffnungsvoll.
„Vielleicht“, sagte Ernst. Er ging zum Tor, das große Eisentor, das immer offen stand aber für sie verschlossen war. Zögernd streckte er die Hand aus.
Seine Finger berührten das Metall.
Und gingen hindurch.
Ein kollektives Keuchen ging durch die Diener.
„Es funktioniert“, flüsterte Ernst. Tränen liefen über sein Gesicht. „Es funktioniert wirklich.“
Einer nach dem anderen traten sie vor. Berührten das Tor. Gingen hindurch. Auf die andere Seite. Auf die Lichtung, die Erik gestern überquert hatte.
Sie waren frei.
Erik beobachtete sie, eine seltsame Mischung aus Freude und Erschöpfung in sich. Er hatte es geschafft. Gegen alle Erwartungen hatte er es geschafft.
Elise und Friedrich kamen zu ihm, halfen ihm auf die Füße.
„Komm“, sagte Elise sanft. „Wir müssen gehen. Bevor…“
Sie verstummte. Ihr Blick ging zurück zu den Trümmern.
Etwas bewegte sich dort. In der Staubwolke. Eine dunkle Gestalt, langsam aufstehend.
„Nein“, flüsterte Erik. „Das ist nicht möglich.“
Aber es war möglich. Die Gestalt trat aus dem Staub hervor. Hinkte schwer. Blut – oder etwas, das wie Blut aussah – rann aus Wunden an Kopf und Brust. Aber Er lebte. Stand. Und Seine Augen…
Seine Augen fanden Erik. Und in ihnen brannte ein Hass so intensiv, dass Erik einen Schritt zurückwich.
„Lauft“, sagte Friedrich. „Jetzt. Alle.“
Sie rannten. Durch das Tor, über die Lichtung, in den Wald. Erik hörte hinter sich ein Brüllen, voller Zorn und Schmerz.
Aber als er zurückblickte, sah er, dass die Gestalt nicht folgte. Er stand nur dort, am Rand des Hofes, starrte ihnen nach.
Und langsam, sehr langsam, lächelte Er.
Sie rannten, bis sie den Wald erreichten. Bis das Schloss hinter ihnen verschwand, verborgen von Bäumen und Nebel.
Und erst dann, erst als sie sicher waren, hielten sie an.
Erik sank auf die Knie, keuchend, sein ganzer Körper zitternd.
„Wir sind frei“, sagte Elise. Sie klang fast ungläubig. „Nach all den Jahren… wir sind frei.“
Aber Erik konnte dieses Lächeln nicht vergessen. Dieses schreckliche, wissende Lächeln.
Er hatte das Schloss nicht zerstört. Nicht wirklich. Nur beschädigt. Und Er lebte noch.
Die Frage war: Für wie lange konnte die Bindung gebrochen bleiben?
Und würde Er kommen, um sie zurückzuholen?
Fortsetzung folgt am Sonntag (14.12.)